Der ungewöhnliche Bildungsroman „Echtzeitalter“ des österreichischen Schriftstellers Tonio Schachinger erhält den Deutschen Buchpreis 2023. Die Jury hat sich für einen so unterhaltsamen wie klugen Roman entschieden, findet Literaturkritiker Carsten Otte.
Ein literarisch überzeugendes Prosawerk
Die Entscheidung ist eine Überraschung. Andere Shortlist-Romane, die aktuelle politische Debatten aufgreifen, sind nämlich leer ausgegangen. Der 1992 in Neu Delhi geborene und heute in Wien lebende Schriftsteller Tonio Schachinger hat mit „Echtzeitalter“ ein Prosawerk geschrieben, das vor allem literarisch überzeugt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Till, der seine Schulzeit auf einem ehrwürdigen Wiener Eliteinternat Marianum verbringt.
Allein schon das imposante Gebäude schindet Eindruck, und das soll wohl auch so sein. Es handelt sich um eine Art Kaderschmiede für Kinder aus gutem Hause, die mit – so die Jury – „reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen“ auf eine erfolgreiche Zukunft vorbereitet werden. Dafür soll zum Beispiel der Rohrstock-Pauker Dolinar sorgen, der seltsame Vorstellungen von einem guten Deutschunterricht hat.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Auf die Zwischentöne kommt es an
Seine drei goldenen Regeln lauten: „Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.“ Der Erzähler nähert sich dieser aus der Zeit gefallenen Figur aber keineswegs nur mit Geringschätzung. Auf kuriose Weise mögen die Schüler den überdreht altmodischen Dolinar auch.
„Echtzeitalter“ ist eine Prosa, in der es auf die Zwischentöne ankommt.
Till betrachtet die Schule ohnehin als einen Ort, der nicht relevant ist für sein Leben. Um in der Deutschstunde möglichst nicht aufzufallen, lernt Till die hochkulturellen Bücher wie die Erzählung „Brigitta“ von Adalbert Stifter einfach auswendig. Ansonsten verbringt er seine Freizeit mit Computerspielen, die dem Zögling tatsächlich ein virtuelles Reich der Freiheit bieten. Vor allem das Echtzeitstrategiespiel „Age of Empires 2“ hat es ihm angetan.
Veritable Gesellschaftssatire eines gewitzten Autors
Ohne dass seine Familie oder auch die Mitschüler es bemerken, wird er schon bald zu einem der erfolgreichsten Spieler weltweit. Aus dem klassischen Internatsroman hat sich dann eine veritable Gesellschaftssatire entwickelt, in deren Zentrum immer wieder auch der lästig reale Wohnort des Protagonisten verspottet wird:
Schachinger klingt manchmal wie Thomas Bernhard, und doch ist „Echtzeitalter“ eine zeitgemäße und eigenständige Prosa, die mit allen Formen des Humors sprachlich zu spielen weiß. Der gewitzte Autor erzählt nicht nur das langsame Erwachsenwerden eines betont angepassten Jugendlichen, sondern verhandelt auch – wie die Jury völlig zutreffend formuliert – „den gesellschaftlichen Ort der Literatur“.
Das Votum für „Echtzeitalter“ lässt sich damit auch als Absage an eine viel zu oft prämierte Debattenprosa verstehen. Die Jury hat sich für einen so unterhaltsamen wie klugen Roman entschieden.
Mehr zum Deutschen Buchpreis und zu Tonio Schachinger
Literaturpreis Tonio Schachinger erhält für den Roman „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis 2023
Der österreichische Autor Tonio Schachinger erhält für „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis 2023. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandle der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur, so die Jury.
Literaturpreis Die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023: Eine Art Schadensbegrenzung
Die Jury des deutschen Buchpreises hat sechs Titel auf die Shortlist des deutschen Buchpreises gewählt. Hochgelobte Werke renommierter Autorinnen und Autoren fehlen. Die engere Auswahl wirkt wie die Fortsetzung eigensinniger Jury-Entscheidungen, findet SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte.
Platz 2 (71 Punkte) Tonio Schachinger: Echtzeitalter
Wie geht das, über Jugendliche zu schreiben, ohne sich auf onkelhafte Weise anzubiedern oder sich in ältlicher Manier lustig zu machen? Genau so! „Echtzeitalter“ ist Schulroman und eine Erziehungsgeschichte des Herzens.
Persönliche Empfehlung von Wiebke Porombka Tonio Schachinger: Nicht wie ihr
Tonio Schachinger gelingt in seinem Debüt „Nicht wir ihr“ ein mehrfaches Kunststück. Er macht mit Ivo, Ivica Trifunović mit vollem Namen, einen bugattifahrenden Profikicker und handfesten Macho zum Protagonisten – den man umgehend ins Herz schließt.