SWR2 lesenswert Kritik

Deborah Levy – Augustblau

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

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Ein glückliches Desaster: Die gefeierte Konzertpianistin Elsa M. Anderson verpatzt einen Auftritt und findet dadurch endlich den Freiraum, der eigenen Geschichte und den eigenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen. Deborah Levys neuer Roman „Augustblau“ erzählt hochliterarisch von einer Befreiung.

Elsa M. Anderson ist ein wurzelloses Wunderkind. Ihre Mutter kennt sie so wenig wie ihren Vater. Ihre Pflegeeltern gaben sie im Alter von sechs Jahren in die Obhut des Klaviervirtuosen Arthur Goldstein, der sie – in der Fiktion – schließlich adoptierte.

Sie macht Karriere. Mit Anfang 30 hat sie die wichtigen Konzertbühnen der Welt erobert. Als wir ihr begegnen, ist Elsa 34 und offensichtlich an einem Wendepunkt angelangt. Aus einer Laune heraus hat sie sich die Haare blau gefärbt und mit dieser provozierenden Aufmachung ein Klavierkonzert im Wiener Musikverein vermasselt: Der Rachmaninoff, für den sie berühmt ist, erstirbt ihr unter den Händen. Stattdessen spielt sie ein selbstkomponiertes Fragment, gut zwei Minuten lang – dann verlässt sie die Bühne.

Der verpatzte Rachmaninoff und die Folgen

Deborah Levy präsentiert uns in ihrem neuen Roman „Augustblau“ eine Frau nicht nur in einer Schaffens-, sondern in einer sehr viel existenzielleren Krise. Elsa tingelt nach ihrem künstlerischen Fiasko durch halb Europa. Sie sieht Freunde. Besucht ihren todkranken Lehrer und Vater Arthur.

Vor allem aber verfolgt sie eine Fremde, die sie auf einem Markt in Griechenland entdeckt und beobachtet hat. Diese Frau kauft an einem Stand zwei mechanische Tanzpferdchen, die Elsa aus rätselhaften Gründen und schier obsessiv selbst besitzen möchte.

Die andere Frau verliert ihren schwarzen Filzhut, den Elsa an sich nimmt – wie ein Pfand oder eine Beute. Fortan bewegt sie sich mit diesem Hut durch die Welt, immer im inneren Zwiegespräch mit der Fremden, die sie bald nur noch ihre Doppelgängerin nennt.

Die „augustblaue“ Farbe, eine Doppelgängerin, die Suche nach der eigenen Identität und deren fragwürdigen Prämissen, aber auch die Dominanz männlicher Deutungspraktiken, repräsentiert von Lehrern, Dirigenten, übergriffigen Kerlen – das sind starke Motive und Themen in diesem Roman, die auf die Schauer-Romantik ebenso verweisen wie auf die Psychoanalyse, auf die feministische Literatur der letzten 100 Jahre wie auf postmoderne Theorien der Ich-Konstruktion, nicht zuletzt auf die Filmgeschichte, insbesondere auf Ingmar Bergmans Psychodrama „Persona“.

Vergangenheit und Gegenwart umschleichen einander

Das ist das faszinierende an Levys Büchern und auch an diesem neuen Roman: Ihr Stil ist eher einfach; er täuscht eine harmlos realistische Erzählhaltung vor. Tatsächlich aber gerät man in ein Spiegelkabinett, in ein doppelbödiges Treiben.

Die vermeintlich stabilen Verhältnisse werden verrückt, Vergangenheit und Gegenwart schleichen lauernd umeinander herum, und die gefallene Heldin durchläuft einen Prozess der Selbstneuerfindung, der immer auch mit einer Selbstentblößung oder Entäußerung verbunden ist.  Ihre Doppelgängerin, ob real oder nicht, ist der Schlüssel zur eigenen Psyche, ein herausforderndes, unnachgiebiges Gegenüber.

In ihr scheint verborgen, was Elsas eigenes Begehren und Leiden antreibt. Das hat durchaus komische Facetten, aber vor allem sehr bittere, verstörende und abgründige. Dass dieses inszenierte Spiel aus Nähe und Fremdheit gelingt, hat mit Deborah Levys nüchtern-suggestiver Sprache zu tun – und somit auch mit Marion Hertles exzellenter Übersetzung.

Und mit dezent gesetzten Motiven, die das Unausgesprochene, Unverstandene, Unverdaute ins Bild setzen – etwa, wenn Elsa nach Seeigeln taucht, deren Inneres als „schleimig, salzig und intensiv“ beschrieben wird. Hier offenbaren sich Lust und Ekel zugleich, etwas Archaisches verbirgt sich im Zentrum der Dinge.

Das Klavier von sich stoßen

Das abgebrochene Konzert hat kathartische Wirkung: Es ist, als würde Elsa das Instrument von sich stoßen, das es ihr ermöglichte, die eigene Geschichte zu verdrängen. Nach mehr als 30 Jahren befreit sie sich von dem mächtigen Flügel, der ihr Schutz geboten hat, von den komplexen musikalischen Partituren, durch die sie vermeiden konnte, über sich zu sprechen, aber auch daran gehindert wurde, nach ihrer eigenen Melodie zu leben.

So beschreibt Deborah Levys vielschichtiger Roman, der im Übrigen während der Pandemie-Jahre spielt, eine Befreiung – von Konventionen, Artistik, Vergangenheitsverleugnung. Dass Elsa die mechanischen Tanz-Pferdchen von ihrer geheimnisvollen Doppelgängerin vor der Nase weggeschnappt wurden, muss man wohl als Glück bezeichnen – zur Selbstermächtigung gehört es, nicht mehr nach der Pfeife anderer zu tanzen.

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Autor/in
Ulrich Rüdenauer