Buchkritik

Volker Kitz – Alte Eltern

Stand
Autor/in
Margrit Irgang

Alte Eltern ist ein Thema, mit dem früher oder später die meisten von uns konfrontiert werden. Volker Kitz schildert sehr persönlich den Alltag mit seinem dementen Vater und hat damit einen wertvollen Begleiter für erwachsene Kinder geschrieben, die vor demselben Problem stehen.

Volker Kitz hat ein wichtiges Buch geschrieben über eine Frage, der wir uns erst stellen, wenn wir durch die Umstände dazu gezwungen werden: Was sollen wir tun, wenn unsere Eltern nicht mehr für sich selbst sorgen können? Sein Vater ist Ende siebzig, als er eines Tages nicht begreift, wie man einen Schlüssel im Schloss dreht und eine Kaffeemaschine bedient. Die Diagnose „Demenz“ stellt die beiden Söhne vor eine Herausforderung. 

Wie löse ich mich von der Illusion des Immer-weiter-so? Welche Zeichen muss ich erkennen, welche Entscheidungen darf ich treffen? Welche muss ich treffen, gegen Vaters Willen? Wie behalte ich Zugang zu ihm, teile Schmerz, Freude, pendle in seine Welt – ohne meine verdorren zu lassen? 

Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert? 

Volker Kitz versucht zunächst, einen rationalen Zugang zu der schwer begreiflichen Veränderung des Vaters zu finden. Besessen sucht er medizinische, soziologische und psychologische Erklärungen. Er fragt sich: Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert?

Der Vater bekommt bei einer Fußball-Reportage leuchtende Augen, die Familienbilder aber sagen ihm nichts. Die Gedächtnisforschung hat herausgefunden, dass wir nur acht bis zehn Tage eines Jahres im Gedächtnis behalten. Die unzähligen einander ähnlichen Erlebnisse, die keine Emotionen hervorrufen, werden aussortiert. Volker Kitz findet und zitiert eine Menge Literatur über Erinnern und Vergessen, was ihm selbst aber nicht hilft. 

Ich hatte geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Ich hatte Zeit eingeplant, um mich um meinen Vater zu kümmern. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren die Schwernisse, die der bloße Anblick der Veränderungen mit sich brachte. Es ist nicht so, dass ich zuvor nie verzweifelt gewesen wäre. Doch eine so anhaltende, sich steigernde Verzweiflung kannte ich nicht.  

Der Vergleich zum Vorher macht die Dinge unerträglich 

Als das Leben alleine im Haus für den Vater unmöglich wird, findet Volker für ihn in Berlin in der Nähe seiner eigenen Wohnung ein Pflegeheim. Zwischen den beiden besteht eine große Verbundenheit, aber das wird jetzt zum Problem: Der Sohn kann das Irreversible der Krankheit nicht akzeptieren. Im Heim kontrolliert er die Pflegerinnen, zählt die Tabletten nach, lässt sich Protokolle der sozialen Aktivitäten des Vaters ausdrucken. Unter allen Umständen will er zurück ins Altvertraute. Irgendwann jedoch begreift er: „Es ist der Vergleich zum Vorher, der die Dinge unerträglich macht.“  

Volker Kitz ist Jahrgang 1975 und hat mit seinem Buch das Problem einer ganzen Generation beschrieben. Er zitiert Prognosen, nach denen sich mit steigender Lebenserwartung die Zahl der an Demenz Erkrankten alle zwanzig Jahre verdoppelt und fragt sich, ob auch er eines Tages dazugehören wird. 

Demenz der Eltern nimmt auch den Kindern viel Selbstbestimmung 

Wir, die Kinder, machen scharenweise ähnliche Erfahrungen, während unsere Eltern alt werden: Zeichen erkennen, deuten, sich eingestehen. Konsequenzen aushandeln. Sie betreffen nicht nur die Eltern, sondern auch uns, im Kern unserer Lebensgestaltung. Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich schien. 

Volker Kitz hat mit dem Schreiben begonnen, als der Vater noch lebte. Es sind die persönlichen und unmittelbaren Beschreibungen des Alltags mit einem dementen Vater, die das Buch so wertvoll machen. Gerade weil Volker Kitz keine Lösung kennt und keine Ratschläge anzubieten hat, dürfte dieses Buch für viele Menschen ein Begleiter werden in einer Situation, auf die man sich emotional nicht vorbereiten kann.  

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