SWR2 Buch der Woche vom 05.12.2016

Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen

Stand
Autor/in
Carsten Otte im Gespräch mit Ulrich Noller

Mit "Du hättest gehen sollen" legt Daniel Kehlmann eine schmale und zugleich vielschichtige Erzählung vor, in dem der Autor auf engem Raum sein schriftstellerisches Können unter Beweis stellt. Kehlmann spielt mit den Elementen der Schauerliteratur und zeigt, dass der Horror heutzutage weniger in einem Haus wohnt, in dem es spukt, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen.

Was real und was schaurige Fiktion ist, lässt sich in dieser Labyrinth-Erzählung kaum mehr unterscheiden. Der alltägliche Ehehorror und das Ende der bürgerlichen Kleinfamilie jedenfalls werden zu einem ganz handfesten Horror, der die Gewissheiten des Erzählers und nicht zu letzt auch die der Leser auflöst.

Daniel Kehlmann ist ein Phänomen. Mit „Die Vermessung der Welt“ hat er einen der erfolgreichsten deutschsprachigen Romane der Nachkriegszeit geschrieben und wenn man sich die Rezensionen der Folgebücher anschaut, etwa zu seinem Roman „F“, so fällt auf, dass Kehlmann einer der wenigen Schriftsteller ist, bei dem Massengeschmack und Literaturkritik weitgehend übereinstimmen. Insofern kann es sich der Autor auch leisten, zwischendurch mal eine schmale Erzählung zu veröffentlichen, die wiederum literarisch einiges wagt.

Carsten Otte: Die Ausgangssituation der Erzählung ist schnell zusammengefasst. Ein Paar mit Kind mietet sich in ein Ferienhaus ein, das etwas abseits vom nächsten Alpendorf liegt. Der Mann ist Drehbuchautor, macht ständig Notizen zu seinem nächsten Filmskript. Die Frau tippt währenddessen auf ihrem Handy herum. Die Tochter erzählt merkwürdige Geschichten aus dem Kindergarten. Und im Dorf, so erfahren die Gäste, werden sich über das Haus, in dem die Kleinfamilie wohnt, ebenfalls unheimliche Dinge zugeraunt. Das Paar streitet die meiste Zeit, richtige Urlaubsstimmung will jedenfalls nicht aufkommen. Dann gibt es einen Kipppunkt, der Mann macht eine folgenreiche Entdeckung. Was ist geschehen?

Ulrich Noller: Während er die Nummer des Vermieters dieses ominösen Hauses heraussuchen möchte, guckt er zufällig auf das Handy seiner Frau, als eine Nachricht eingeht. Diesen Vermieter hat noch niemand zu Gesicht bekommen, es gab nur Kontakt mit digitalen Mitteln. Und dann entdeckt er, dass die Frau einen Liebhaber zu haben scheint. Er findet nämlich Nachrichten, die durchaus erotische Inhalte haben.

Ja, und diese Nachrichten sind etwas kryptisch. Der gehörnte Ehemann bekommt nur einzelne Fetzen mit. Er schaut aufs Display, schaut wieder weg, realisiert sofort, da gibt es ein Parallelliebesleben seiner Frau. Mit der Ehekrise, die jetzt ausbricht, beginnt sich auch die Wahrnehmung des Erzählers zu verändern. In welcher Weise?

Die Realität beginnt zu changieren. Er ist sich nicht mehr ganz sicher, auf welcher Ebene der Realität er gerade steckt. Ist es die Realität des Urlaubs, den er da begeht mit seiner Frau und der kleinen Tochter? Ist er irgendwo in seiner Drehbuchgeschichte, an der er gerade arbeitet und über die er die ganze Zeit nachdenkt. Er meint außerdem, merkwürdige Phänomene zu beobachten. An sich, aber auch an dem Haus, in dem sie Urlaub machen. Es gibt eine Szene, in der er nach draußen schaut, durchs Fenster. Draußen ist es dunkel, und er sieht sich plötzlich nicht mehr. Er sieht kein Spiegelbild mehr von sich und ist deshalb völlig irritiert. Er guckt weg, guckt wieder hin und dann ist das Spiegelbild wieder da. Der Ich-Erzähler gerät in eine starke Unsicherheit, und auch wir Leser wissen nicht genau, wo wir uns befinden, in welcher Realität, und ob es spukt in dem Haus.

Die Erzählung spielt mit Elementen des Schauerromans und des Horrorfilms. Die Bezüge zu Edgar Allan Poe und auch zu Filmen wie „Shining“ sind offensichtlich. Es wird sogar aus diesen Werken zitiert. Die Frage ist aber, was macht hier in diesem Fall den Schauer aus?

Der Schauer ist hier reduziert auf die Erzähltechnik, auf die Art und Weise, wie man Schauer erzeugt. Die Erzählung ist mit den nicht mal 100 Seiten sehr schmal, und Daniel Kehlmann konzentriert sich in dem Band auf eine Reflektion über die Erzähltechniken und Genremerkmalen, die er anwendet. Neben dem Horror und dem Schauer kommen noch Thriller-Elemente hinzu. Es ist offen, wie die Geschichte ausgehen wird, es wird zunehmend spannender.

Der Schauer ist sowohl technisch motiviert, es gibt aber auch so eine Ebene der Unsicherheit seiner selbst, die den Erzähler beschleicht. Er weiß nicht mehr wer er ist, wo er ist und was ihm wie wiederfährt. Er verliert jegliche Klarheit, und je deutlicher er versucht dieser Situation zu entkommen desto schwieriger wird es.

Es gibt eine Szene, in der er, kaum ist seine Frau wutentbrannt davongefahren, mit seiner Tochter ins Dorf zu gehen versucht. Er unternimmt eine lange und anstrengende Wanderung mit ihr. Er kommt dann irgendwann zu einem erleuchteten Haus und muss feststellen: Es ist doch wieder das Haus, das sie gerade verlassen haben.

Es gibt also keinen Ausweg, gerade diese Szene hat mich, wie andere auch, an Bilder von M.C. Escher erinnert. Das sind labyrinthische Wege die da gezeichnet werden, in denen alle Wege immer wieder auf eine absurde Weise zurückfinden zum Ausgang und im Grunde genommen ist diese Erzählung, meine ich, eine Variation zu so einem Bild.

Ja, erzähltechnisch wird genau das durchgespielt, was wir vielleicht auch bei M.C. Eschers Bildern schon mal gesehen haben. Aber ich würde einen Schritt weitergehen. Denn mein Eindruck ist, dass diese Elemente des Labyrinthischen, des Schauerromans auch eine inhaltliche Verortung haben. Was ist da zunächst einmal passiert? Ein Ehebruch. Die Frage ist nun für den Erzähler, wie er damit umgeht, und das überfordert ihn. In diesem Moment vermischen sich die Ebenen.

Man könnte jetzt sagen, der Schauer, den der Erzähler erlebt, ist durchaus real. Der Horror besteht im ehelichen Betrug und wie er mit den bekannten Kommunikationsmedien durchgeführt wird. Wir haben es also mit einer Verlagerung der klassischen Horror- und Schauerelemente auf die Ebene eines Eherealismus zu tun. Diese Interpretation finde ich auch insofern plausibel, weil das Buch „Du hättest gehen sollen“ heißt.

Schon mit dem Titel verweist der Autor auf diese Form-Inhalt-Verschiebung. Hätte die Frau einfach ihren Hut genommen, wäre gegangen und hätte dieses Geheimnisspiel nicht betrieben, dann wäre es gar nicht zu diesem Ehe-Betrugs-Horror gekommen. Wir haben hier also auch auf einer inhaltlichen Ebene eine Entsprechung dieses formalen Spiels.

Das ist eine interessante Interpretation, die Sie da vornehmen. Es gibt natürlich auch Variationen davon, die möglich sind. Dieses „Du hättest gehen sollen“ könnte sich auch beziehen auf die Situation kurz vor der SMS und kurz vor der Aufdeckung des möglichen Ehebruchs, so ganz, ganz sicher ist es nicht, ob der tatsächlich begangen wurde, das könnte auch Einbildung von ihm sein.

Umso mehr! Das macht den Horror komplett.

Hätten sie das Haus aber, wie sie vorhatten, schon vorab verlassen, ohne dass diese düstere Wahrheit ans Licht gekommen wäre, dann wäre möglicherweise die ganze Geschichte gar nicht auf diese Art und Weise mysteriös geworden. Es wären nur der alltägliche Horror der Ehe geblieben, ohne Betrug. Dazu sagt er an einer anderen Stelle, dass, die Ehe sich dadurch auszeichnet, dass man sich eben trotzdem liebt, trotz dem allem und eben nicht geht.

Das ist in gewisser Weise eine erzählerische Finte angesichts dessen, was passiert. Und der Erzähler würde diesen Satz bestimmt nicht mehr wiederholen, nachdem er die SMS entdeckt hat. Das sieht man schon daran, was die Entdeckung beim Erzähler auslöst. Das Beieinanderbleiben wird schnell zu einer Zwangssituation, und das ist auch in dieser Hinsicht äußerst  schauerlich.

Kehlmann spielt mit den Elementen von Eheroman einerseits und Schauerroman auf der anderen Seite. Das hört sich artifiziell an, ist aber rasant zu lesen. Vielleicht könnte man auch das noch kurz erwähnen:

Das Buch ist nicht, wie die meisten Bücher der Herbstsaison, vor der Frankfurter Buchmesse erschienen, sondern zur Messe. Zunächst einmal stand der Band überhaupt nicht im Mittelpunkt des medialen Interesses, weil die anderen Herbsttitel dort präsentiert wurden, was bei einem bekannten Bestsellerautor doch erstaunlich ist. Dann aber kamen die ersten Rezensionen und die waren, was mich ebenfalls erstaunte, für Kehlmann-Verhältnisse sehr kritisch. Und das lag auch daran, weil die Kollegen sich sehr am Formalistischen aufgehalten und, ähnlich sie Sie, kaum mit der Geschichte auseinandergesetzt haben.

Tatsächlich ist es so, dass dieses Formalistische in seiner reduzierten Art und Weise wie es angeordnet ist, einen sehr anspringt beim Lesen. Es ist nicht nur eine sehr gut durchkonstruierte, verschachtelte und sehr versponnene Erzählung, sondern sie ist eben wirklich total auf das Wesentliche konstruiert, sodass die anderen Bedeutungsebenen erstmal gar nicht so sehr mit im Bewusstsein sind.

Erst wenn man zu interpretieren anfängt und sich fragt: Was könnte eigentlich damit gemeint gewesen sein, welche Geschichte, welches Thema hat er erzählt? Erstmal scheint die Geschichte gar kein Thema zu haben, außer sich selbst, eben die Art und Weise wie man Schauer erzeugt, wie man Unsicherheit in eine Wahrnehmung reinbringt, wie die Wahrnehmung sich ändert wiederum durch Unsicherheiten und so weiter und so fort.

Es ist einerseits eine sehr reduzierte Geschichte, die auch Züge einer Novelle trägt. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Büchlein sofort in den Bestsellerlisten ganz nach oben gesprungen ist. Dort findet man ja eher die dicken Schmöker wieder, wo die Leute meinen sie würden richtig viel bekommen für das Geld, das sie investieren. Daniel Kehlmann hat uns mit „Du hättest gehen sollen“ wohl eines Besseren überzeugt.

Die Leserinnen und Leser werden auch nicht enttäuscht. Wir hören es auch hier in unserem Gespräch: Es gibt sehr unterschiedliche Varianten, sich mit dem Text zu beschäftigen. Vielleicht noch ein kleines Detail, das zeigt, wie gut der Mann auch handwerklich arbeitet.

Wir haben es ja hier mit einem Drehbuchautor zu tun, der seine Notizen recht flott in sein Heft skizziert, und diese abgebrochenen Notizen werden dann in den kryptischen Nachrichten des Nebenbuhlers gespiegelt. Auch auf dieser Ebene hängen die Erzählstränge zusammen – und das hat mich wirklich überzeugt.

Das fand ich auch grandios, wie diese Ebenen sich ineinander vermischt haben und wie dann mit einem, auf eine gewisse Weise offenen Ende auch nochmal aller möglicher Spielraum für Interpretationen bleibt. Das bezieht sich auch auf die Geschichte, an der der Drehbuchautor arbeitet. Der Mann hatte einen Hit, „Beste Freundinnen“ hieß dieser Film. Er soll jetzt einen Nachfolgefilm schreiben, ist unter Druck, weil ihm nichts einfällt. Man weiß gar nicht so sicher, ist man mit der Erzählung „Du hättest gehen sollen“ auch in diesem Film, den der Drehbuchautor gerade konzipiert. Da ist eine Unsicherheit, die sich bis in die Realität des Lesers verlagert. Da gibt es viele Facetten und Varianten, das ist schon ziemlich grandios gemacht.

Und man fragt sich natürlich am Ende auch, ob diese Geschichte nicht auch verfilmbar wäre – weil wir es ja hier mit einem Drehbuchautor zu tun haben, der gerade einen Film schreibt. Ist sie verfilmbar?

Geschichten mit gleißenden Gletschern, aufreißenden Himmeln und einsamen Häusern, die in den Alpen angesiedelt sind, sind auf jeden Fall gut verfilmbar. Aber wie man diese Geschichte hier in eine Linie bringen würde, in einen Ablauf, der ja notwendig chronologisch sein muss…

…nein, der könnte ja auch sozusagen in Parallelmontage laufen oder mit Schnitttechniken operieren, sodass das Verschachtelte auch gut rauskommt. Das wäre doch mal ein wirklich spannendes Filmprojekt.

Ja, aber in der Art, wie er es erzählt, ist es ein Kammerspiel. Und da sehe ich, bei allem was mich beeindruckt, genau an der Form, die er gewählt hat, letztlich auch eine Schwäche der Erzählung: Das Milieu, das ganze Umfeld spielt im Grunde genommen keine große Rolle. Zum Beispiel das Dorf: In einem Film müsste das Dorf auf jeden Fall eine Rolle spielen mit verschiedenen Charakteren. Da gibt es einen, der wird nur kurz erwähnt, der hat im Dorf einen merkwürdigen Laden. Und er ist auch derjenige, der behauptet, dass mit dem Ferienhaus etwas nicht stimmt.

Hier habe ich beim Lesen drunter gelitten, dass Daniel Kehlmann so wenig Fleisch, also so wenig Milieu und Landschaft im Sinne von menschlichen Gefilden in seine Erzählung gepackt hat. Ich bin mir ganz sicher: Wär's eine Verfilmung zumindest am Mittwochabend zur besten Sendezeit, dann würden wir davon mehr zu sehen bekommen.

Das stimmt. Leider. Ich bin allerdings froh, dass wir diese Gefilde bei Kehlmann eben nicht auserzählt bekommen haben. Die Gletscher, das Dorf und all dieses schöne und vielleicht auch seltsame alpenländische Milieu, nein, all das ist in dieser in der Tat sehr schlichten Erzählung draußen geblieben. Zum Glück! Denn gerade deshalb öffnen sich so viele Assoziationsräume.

Stand
Autor/in
Carsten Otte im Gespräch mit Ulrich Noller