Zwischen Laos und Potsdam-Waldstadt – der Schriftsteller André Kubiczek erzählt in seinem autobiographischen Roman „Nostalgia“ von einer Familie in der DDR, die mit gelebten Internationalismus aneckt. Und von einer Jugend, die frühe Begegnungen mit Krankheit und Tod machen muss.
Wegen der Liebe ist sie 1969 in die geschlossene Gesellschaft der DDR eingewandert, die junge Frau aus Laos. Sie hat ihren Mann beim Studium in Moskau kennengelernt. Auch wenn der proletarische Internationalismus groß geschrieben wird in der DDR – befremdete Blicke muss sie ertragen unter den Ostdeutschen, und Sohn André bekommt gelegentlich „Schlitzauge“-Rufe zu hören. Immerhin gibt es eine Lehrerin, die sich für ihn einsetzt:
Gut gemeint, auch wenn es nach den heutigen Maßstäben nicht politisch korrekt klingt. Aber darum geht es André Kubiczek nicht.
Untergründiger Rassismus in der DDR
Ihm geht es um die historische Korrektheit, auch bei der Thematisierung des untergründigen Rassismus in der DDR. Es ist nicht das erste Mal, dass der Schriftsteller in einem Roman die eigene Familiengeschichte literarisch verarbeitet. Noch nie aber ist er den biographischen Leidensuntergründen, die seit je sein Schreiben bestimmen, so nahe gekommen.
Im Zentrum von „Nostalgia“ steht eine Frau zwischen zwei Welten. Der Vater der Mutter war kurzfristig Außenminister des Königreichs Laos, bis er von der eigenen Leibgarde ermordet wurde. Schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung missbilligt die laotische Familie die Beziehung mit einem deutschen Arbeitersohn aus der DDR und schickt der Mutter vietnamesische Spione auf den Hals.
Ihr Mann wiederum, der sich mit seinem Studium auf den diplomatischen Dienst vorbereitet und deshalb zu besonders staatstreuem Verhalten verpflichtet ist, erregt bei der Stasi Verdacht wegen seiner Liebe zu einer Frau aus dem reaktionären Königreich Laos. Dass das junge Paar überraschend schnell einen Telefonanschluss bekommt, liegt nur daran, dass man sie dann besser abhören kann.
Die Mutter übersetzt aus dem Laotischen
Die Lage bessert sich, als in Laos 1975 die Monarchie gestürzt wird und eine sozialistische Regierung an die Macht kommt. Im Zeichen der internationalen sozialistischen Bruderschaft öffnet sich für die Mutter die Tür zu einer akademischen Karriere, und sie ist gefragt als Übersetzerin:
Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des 1969 geborenen Sohnes André. Zunächst erleben wir mit ihm die Unannehmlichkeiten des realsozialistischen Schulalltags, lernen Freunde und Freundinnen aus der Nachbarschaft von Potsdam-Waldstadt II kennen und erhalten Einblicke in die Popsozialisation eines Ostjugendlichen um 1980, der heimische musikalische Gewächse wie die Puhdys schlimm findet und lieber Hitparadenmaterial aus dem Westen auf seinen Cassettenrecorder schmuggelt.
Und dann ist Weihnachten 1981, und mit großer Ausführlichkeit wird erzählt, wie der Junge seine Großeltern aus dem Harz vom Bahnhof abholt und wie es im Verlauf der Feiertage nicht nur Freuden, sondern auch Streit und das eine oder andere Malheur gibt. Wird die Geduld der Leser hier womöglich überstrapaziert?
Familienwelt vor der Abbruchkante
Erst später fällt ein anderes Licht auf die breit ausgerollte „Nostalgia“ dieser Passagen, die eine noch halbwegs heile Familienwelt kurz vor der Abbruchkante in Szene setzen. Denn am Ende dieser Ferien setzt das fürchterliche Siechtum der Mutter ein. Sie ist unheilbar an Krebs erkrankt. Für André ist die Leichtigkeit der Jugend dahin. Er erlebt seine Mutter fortan nur noch stark abgemagert auf dem Sofa liegend. Es schaudert ihn vor den Beuteln ihres künstlichen Darmausgangs.
Ost-West-Motive, wohin man blickt und wo man sie nicht vermutet. Das ganze Leben scheint damals durchwirkt von der Systemkonkurrenz.
Auch Andrés ein Jahr jüngerer Bruder Alain leidet an einer Krankheit, einer sich von Jahr zu Jahr verschlimmernden geistigen Einschränkung. Für André taugt er nur schlecht zum Spielkameraden, weil er vieles nicht begreift. Irgendwann büßt er auch seine gewisse liebenswerte Niedlichkeit ein und wird von den Menschen offenbar nur noch als Zumutung empfunden.
Hier ist der Bruderblick erbarmungslos, weil mitbetroffen. Als seine erste kurzzeitige Freundin André fragt, ob er Geschwister habe, verleugnet er den Bruder und bringt sich damit selbst in die Klemme.
Zur Tragik gehört es, dass sich die Krankheiten von Bruder und Mutter durch medizinische Fehlbehandlungen und missglückte Operationen verschlimmern.
Eindrücklich und authentisch erzählt
Die Vorgeschichte insbesondere der Mutter lässt sich nicht allein durch die Perspektive des Sohns vermitteln. Deshalb wechselt der Roman in der zweiten Hälfte mehrfach überraschend in die Gedankenwelt der Mutter, was erzähltechnisch inkonsequent wirkt, aber inhaltlich erheblichen Zugewinn bringt.
Die Sehnsucht nach ihrer laotischen Herkunftswelt wird immer mächtiger und das Fremdheitsgefühl in der DDR mit dem scheußlichen Kochbeutelreis immer größer. Ein starkes, anrührendes Kapitel schildert die letzte Reise der Sterbenskranken zur Familie nach Laos.
„Nostalgia“ hätte einige Straffungen gut vertragen. Aber es ist eine eindringliche Lektüre, die durch Authentizität und Ehrlichkeit überzeugt. Der Roman lebt von den atmosphärischen Details und kontrastiert die Tragik mit einem leichten, bisweilen gewitzten Ton. Erinnerungsschwere Romane mit DDR-Hintergrund gibt es inzwischen viele, aber durch die ungewöhnliche, interessante laotische Komponente bricht „Nostalgia“ aus dem Gewohnten aus.
André Kubiczek macht aus seinem autobiographischen Verfahren keinen Hehl. Am Ende widmet er das Buch den beiden früh verstorbenen Hauptfiguren: seiner Mutter, die nur vierzig, und seinem Bruder Alain, der nur siebzehn Jahre alt wurde.
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Rezension von Kristine Harthauer.
Penguin Verlag, 384 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-328-60085-5