SWR2 lesenswert Kritik

Alexander Kluge – Heinrich von Kleist. Ein Gewitterleben

Stand
Autor/in
Konstantin Sakkas

Alexander Kluge ist einer der letzten noch lebenden Großintellektuellen der alten Bundesrepublik. In seinem neuesten Buch widmet er sich einer alten Liebe: dem Schriftsteller Heinrich von Kleist. In Einzelbetrachtungen und Gesprächen, unter anderem mit dem Soziologen Jens Bisky und dem Philosophen Joseph Vogl, rekapituliert Kluge nicht nur Kleists Leben, sondern zeigt vor allem dessen ungeheure Modernität.

Wallstein Verlag, 182 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-8353-5398-5

Alexander Kluge, der im vergangenen Jahr 90 Jahre alt wurde, ist einer der wichtigsten Intellektuellen der Bundesrepublik. Seit den 60er Jahren ist er als Filmemacher und Autor in immer neuen Variationen aktiv. Sein neues Buch gilt einer anderen deutschen Legende: „Heinrich von Kleist - Ein Gewitterleben“ - Konstantin Sakkas.

Kleist und Kluge – das passt. Hier der große Außenseiter der deutschen Literaturgeschichte an der Wende zur Moderne, den die Irrationalität der Welt verzweifeln ließ und der die Kaputtheit dieser Welt in seiner eigenen Biographie nachvollzog bis zum Freitod mit der Geliebten am Kleinen Wannsee – dort der bundesrepublikanische Großintellektuelle, Kind der Frankfurter Schule, Jurist, Filmemacher, Erzählgenie, stets auf der Suche nach, wie eines seiner Bücher betitelt ist, der „Lücke, die der Teufel lässt“.

Alles hängt mit allem zusammen – diese längst zum billigen Motivationsspruch erniedrigte Maxime behält in Kluges Schaffen noch ihren eigentlichen Wert. Boulevardeske und hochgeistige Phänomene, Ereignisse, die einander denkbar fernliegen, stehen für ihn in einem geheimen Wechselverhältnis, in einer, in den Worten der Quantentheorie, Verschränkung miteinander. Verschränkung ist zudem literarische Methode – bei Kleist wie bei Kluge: intuitiv, assoziativ, ungeheuer gelehrt und beziehungsreich.

„Die Seele Kleists“, schreibt Kluge, „entschloss sich, als er schon ein junger Mann war, »kein Erwachsener zu werden«. Sie hatte sich an der Nahtstelle zwischen der animistischen Phase seiner Kindheit [recte: Kinderzeit, K.S.] und den Anfängen ihrer magischen Phase verhakt. Bei anderen Menschen ist es eine Durchgangsstation. Für ihn wurde es Höhle, Prärie, Haus und Horizont. Er blieb lebenslänglich vor Ort. Das lebenslängliche Verharren an einer Bruchstelle im Lebenslauf, das Verhaken, produziert Energien, die ähnlich tektonischen Platten sind, die über den Erdkreis driften, sich verhaken.“

Kluge spricht von Juvenifizierung, von „Verjugendlichung“ als Prinzip, sich den vermeintlichen Zwängen des Erwachsenwerdens – Herrschaft, Kapitalismus, verdinglichender Weltzugriff – zu entziehen.

Hannah Arendt sprach von Natalität, Gebürtlichkeit, der Fähigkeit des Menschen, immer wieder bewusst einen Anfang zu setzen, und wo Kluge sich Kleist, so widmete Arendt sich der anderen großen Außenseiterfigur jenes Zeitfensters zwischen Ancien Regime und Nationalismus, zwischen 1790 und 1806: der jüdischen Salonière Rahel Varnhagen.

Wie Kleist in seinen Werken, so beschwor Rahel in ihrem Leben das Ideal einer Sozialität frei von allen ständischen und biographischen Bedingungen.

Ein Leben vor dem Sündenfall der Bedingtheit: darum geht es der Philosophie, darum ging es der Revolution, darum ging es Kleist und geht es Kluge. Kleists „Zerbrochener Krug“ schließt mit einem Happy End, aber der Krug bleibt zerbrochen, die essenzielle Negativität des In-der-Welt-seins ungeklärt, und mit dieser Aporie endet das Stück.

Das ist Kleists Thema und auch das Thema Kluges. Jeder Fortschritt, jede Revolution, jeder Entschluss, es besser zu machen, erwächst aus Bedingungen, die der Mensch nicht ganz überschaut und auch nicht beherrscht.

Diese Erbsünde der Geschichtlichkeit fährt ihm immer wieder teuflisch in die Parade. Doch der Teufelskreis wird durchbrochen durch Epihanien eines absoluten Neuanfangs im Sinne Arendts, bei Kleist wie bei Kluge.

Das Warten auf diese Epiphanien, das nervöse Harren auf den Einbruch des paradiesischen Außerhistorischen in die verdorbene Geschichte kennzeichne auch das Leben Kleists. Sein Leben, so der Soziologe Jens Bisky, „folgt nicht dem Modell eines Bildungsromans, es folgt dem Modell von Stauung, etwas entsteht, dann kommt es zu einer Lösung und es explodiert.“ Darauf Kluge: „Es ist ein Gewitterleben.“ Und Jens Bisky weiter:

„Unser Gehen ist nur ein in jedem Augenblick aufgehobenes Stolpern oder verhindertes Stürzen. Und das überträgt Kleist auf den Kosmos, auch der Kosmos ist etwas, was jeden Augenblick zusammenstürzen könnte.“

Vielleicht ist Alexander Kluges Kleist-Buch sein intellektuelles Vermächtnis; jedenfalls aber ist es eine genialische Handreichung für ein tieferes Verständnis des Grunddilemmas, in dem der Mensch und die Menschheit sich befinden und für das unsere auf technische Lösungen getrimmte Gegenwart in besonderer Weise den Blick verstellt. Es ist keine leichte Kost – aber das kann und soll es auch nicht sein.

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Autor/in
Konstantin Sakkas