Die legendäre „Andere Bibliothek“, im Januar 1984 gegründet von Hans Magnus Enzensberger und dem Verleger und Buchgestalter Frank Greno, feiert ihr 40. Jubiläum. Jeden Monat erscheint ein neuer Band, seit 2010 im Aufbau Verlag.
Angekommen ist die Reihe mittlerweile bei Band 480.
Zu diesem Anlass stöberte die SWR-Kultur-Literaturredaktion in ihren Ausgaben. Welche Bände sind ihre Lieblinge? Und was macht die Reihe so besonders?
Andreas Thalmayr: „Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen“
Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt“ von Andreas Thalmayr.
Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur.
Kunst kommt von Können
Beispiele gefällig? Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie Jargon und Zitat. Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, dass man lernen kann, aber eines, ohne dass es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration.
Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr? In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: ‚i.V. Enzensberger‘. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der ‚Anderen Bibliothek‘, Andreas Thalmayr, sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym.
Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie: Dass er später also den Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wundert nicht.
Frank Hertweck, Literaturchef SWR Kultur
Michael Glawogger: „69 Hotelzimmer“
In Hotelzimmern auf der ganzen Welt verschlägt es den Erzähler in den Geschichten des Dokumentarfilmemachers Michael Glawogger. „69 Hotelzimmer“ ist ein besonderer Band über einen Reisenden. Der Roman beginnt in Reynosa, Mexiko, als ein Reisender von Schüssen geweckt wird.
Das stört ihn aber nicht weiter, er ist es noch gewohnt von seinem letzten Besuch dort. Ihn stört es auch nicht, dass das Hotel, in dem er schläft, der Mafia gehört. Um genau zu sein, liebt er seine Unterkunft. Vor allem aus einem Grund: Sein Hotelzimmer hat einen Schreibtisch.
Und dieser steht so, dass man sich selbst nicht in einem Spiegel sieht: Denn in neunzig Prozent der Fälle, so erklärt es der weit gereiste Erzähler, hängt in Hotelzimmern ein Spiegel über dem Schreibtisch. Das sei falsch, schließlich würde zuhause kein Mensch auf so eine Idee kommen. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen?
Geschichten aus aller Welt
Es ist dieser Blick auf die großen Dinge und die kleinen Details, die die Texte von Michael Glawogger so wunderbar machen. Es ist ein Buch mit Geschichten aus der ganzen Welt – von Äthiopien bis Nordkorea, von Vietnam bis Norwegen. Manche von ihnen sind märchenhaft, manche voller rätselhafter Begegnungen und seltsamen Dingen, die in Hotelzimmern zurückgelassen wurden.
Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher Glawogger porträtierte in Dokus wie „Whores Glory“ oder „Megacities“ die Ausgebeuteten, die ums Überleben-Kämpfenden. Dieser Band ist vielleicht eines seiner persönlichsten Werke, denn er bringt uns den Reisenden Glawogger näher.
Letzte Geschichte spielt in Karlsruhe
Wunderschön ist auch diese Ausgabe, die bei der „Anderen Bibliothek“ erschienen ist. 2015, posthum, nachdem Glawogger bei Dreharbeiten in Liberia an einer Malaria-Infektion gestorben ist.
Auf dem Buchrücken leuchtet wie ein Neon-Schriftzug das Wort „Hotel“. Innen beginnt jede Geschichte mit orange-farbenen Buchstaben, die langsam von Rot und Violett ins Schwarze verlaufen – ein in Druckertinte festgehaltener Sonnenuntergang.
Die letzte Geschichte spielt 2012 in einem Hotel in Karlsruhe. Natürlich räumt der Reisende erst mal das Hotelzimmer um und stellt Tisch und Stuhl vor das Fenster für den perfekten Blick auf den Bahnhofsvorplatz.
Beim Umbau sieht er sich selbst im Spiegel. Er denkt, für seine Nachwelt möchte er gerne so, als „der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen“ überliefert werden.
Das Bild, das mir aber vom Filmemacher und Autor Michael Glawogger bleibt, ist das hier: Das Bild eines Reisenden, der einen besseren Platz für sich selbst sucht, einen Platz mit Aussicht auf das Getümmel und Geschehen, auf die Menschen, für die Glawogger einen so einfühlsamen Blick hatte.
Kristine Harthauer, Redakteurin
Christoph Ransmayr: „Die letzte Welt“
Den Pappschuber, der normalerweise die Bände der „Anderen Bibliothek“ schützt, den habe ich zwar nicht finden können. Das ist in diesem Fall aber kein Verlust für meine Ausgabe von Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“: Denn es spricht dafür, dass ich diesen Band, den 44. der Reihe, tatsächlich gelesen und nicht bloß als bibliophiles Schmuckstück ins Regal gestellt habe.
Ransmayr ist ein Universum für sich
Zudem bin ich ganz sicher, „Die letzte Welt“ irgendwo gebraucht gekauft zu haben, denn 1988, im Erscheinungsjahr, war ich 14 Jahre alt und gewiss noch kein Ransmayr-Leser.
Auch die Debatte um diesen Roman habe ich erst später nachgelesen: Hat Hans Magnus Enzensberger mit Hilfe seiner Beziehungen im Literaturbetrieb einen Autor und sein Buch großgemacht? Oder ist der Österreicher Ransmayr tatsächlich ein Schriftsteller von hohem Rang? Heute wissen wir: Letzteres ist der Fall.
Ransmayr ist ein Universum für sich: „Die letzte Welt“, diese Geschichte von der Verbannung des Dichters Ovid, die Ransmayr in literarische Korrespondenz zu Ovids „Metamorphosen“ setzt, ist zwar nicht mein Lieblingsroman von Ransmayr geworden.
Aber: Er war ein Bestseller. Meine Ausgabe weist die Druckauflage 76.000 - 100.000 auf. So viel verkauft heute allenfalls Sebastian Fitzek. Die „Andere Bibliothek“ ist damit ein Relikt aus der goldenen Zeit der schönen Bücher.
Christoph Schröder, freier Literaturkritiker
Driss Ben Hamed Charhadi: „Ein Leben voller Fallgruben“
Die Buchreihe ist für mich so etwas wie eine Offenbarung gewesen. Literaturwissenschaft habe ich in den 80er-Jahren gegen den entschiedenen Rat meines Deutschlehrers studiert. Er wollte Klassiker im Stil der 50er-Jahre besprechen, ich wollte etwas anderes. In meinem Ketzertum fühlte ich mich durch die „Andere Bibliothek“ bestätigt.
1985 habe ich meinen Buchhändler jeden letzten Donnerstag im Monat belauert um eins der Vorschauhefte zu ergattern. Es war eine wilde Mischung am Anfang die Lügengeschichten des Lukian von Samosata dann Barbey d’Aurevilly über den Dandy, in Samt eingeschlagen.
Die frühen Titel sparte ich ernsthaft vom BaföG ab, nur um meinem Deutschlehrer zu zeigen, dass es bessere Autoritäten gab als ihn.
Ein irres Buch – auch heute noch
Besonders angetan hat es mir Band zwei, der zwischen den Lügengeschichten und dem Dandy: Driss Ben Hahmed Charhadi, „Ein Leben voller Fallgruben“. Eine Entdeckung von Paul Bowles.
Es geht um einen jungen Underdog in Marokko, der von seinem Stiefvater ins Kinderheim geschickt wird. Weil die Familienehre das nicht zulässt, wird er jedoch bald wieder herausgeholt.
Wenn der Junge mal Geld hat, nimmt ihm der Stiefvater das gleich wieder ab. Er bekommt einfach keine Chance. Und so verloren ist dann auch der Rest des Lebens – er kifft und stiehlt, Liebe gibt es nur bei Prostituierten und da auch nur zusammen mit Prügel. Er wohnt auf der Straße und in Gefängnissen.
Erzählt aber wird das ohne jede Anklage, ohne Psychologie, nur im Hier und jetzt. Charhadi hat den Text auf Tonband eingesprochen, Paul Bowles hat es nur abgetippt, Ein irres Buch – auch heute noch.
Alexander Wasner, Redakteur