Philip Marlowes erster Fall
Philip Marlowe bringt nichts so leicht aus der Ruhe. Rauchend streift der einzelgängerische Ermittler durch die zwielichtigen, dunklen Gassen von Los Angeles. Er ist cool. Er ist smart. Er ist ein echter Kerl. Seine Waffen? Sein Charme und sein Verstand.
Der zynische Privatdetektiv ist der Archetyp des hard-boiled detective, einem hartgesottenen Ermittler also. Seinen ersten Fall löste Marlowe im Debütroman seines Schöpfers Raymond Chandler.
„Der große Schlaf“ ist 85 Jahre nach der Veröffentlichung ein Klassiker der Kriminalliteratur, Chandler gilt bis heute als „Krimipapst“. Der „Faust" Chandlers sei laut seiner Fans aber „Der lange Abschied", der umfangreichste Marlowe-Roman.
Und all das, obwohl eine Figur wie Haudrauf Marlowe heute eher nicht mehr als zeitgemäß gelten würde. Warum faszinieren die Abenteuer von Philip Marlowe die Leserschaft noch immer?

Ein kritisches Bild der amerikanischen Gesellschaft
Als „Der große Schlaf“, im Original „The Big Sleep“, 1939 in den USA erscheint, befindet sich die Welt gerade zwischen zwei Weltkriegen. Das Amerika der 1930er- und 1940er-Jahre kämpft mit der schweren Wirtschaftskrise und ihren Folgen.
Es ist die goldene Zeit der Detektivgeschichten. In den Romanen Raymond Chandlers oder Dashiell Hammetts haben die Ermittler durchaus einige exzentrische Charakterzüge, wenngleich sie sich doch stark von ihren britischen Vorgängern unterscheiden: Sie sind nicht schrullig wie Agatha Christies Hercule Poirot oder Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, sondern taff.
Raymond Chandler: „Der große Schlaf“ – auch in der ARD Audiothek
Eine Fähigkeit, die ein Philip Marlowe in der Welt, in der er ermittelt, auch durchaus braucht, denn sie ist nicht einfach in gut und böse zu unterteilen. Die Gesellschaft ist voller dunkler Geheimnisse und moralischer Zweideutigkeiten. Es sind die Unsicherheiten und Ängste, von denen das Amerika dieser Zeiten geprägt war, die auch Einzug in den Kriminalroman hielten.
In Marlowes L.A. sind es nicht nur die Gangster, die gewalttätig und korrupt sind, es sind auch die Reichen und die Schönen, manchmal sogar die Polizei. Es ist eine hoffnungslose und blutige Welt zwischen Gangstern, Schnapsschmugglern und Erpressern.

Schöne, blonde Frauen und Mord und Totschlag
Es ist eine perfide Welt, in die Raymond Chandler Philip Marlowe schickt, denn die Arbeit und das Leben machen dem rauchenden Schnüffler auch die Frauen schwer. Die, die seinen Weg kreuzen, entpuppen sich meist als gefährlich und verräterisch.
Philip Marlowe ist ein einsamer Wolf, ohne Freunde, ohne Familie. Trotzdem, beinahe naiv und mit verklärtem Dackelblick verfällt er immer wieder den schönen Femmes Fatales. Liebschaften, die sich nicht selten als tödlich erweisen.
„Der lange Abschied“ von Raymond Chandler in der ARD Audiothek | Hörbuch
Das Frauenbild in den Philip-Marlowe-Romanen von Raymond Chandler ist komplex und ambivalent, in den Wurzeln aber misogyn. Chandlers Marlowe-Krimis können als Studien über toxische Männlichkeit gelesen werden, sie enthüllen unbewusste und bewusste Ansichten über Geschlecht, Hautfarbe und Machtverhältnisse.
Doch auch zu manchen Männern zeigt sich Ermittler Marlowe abfällig. Der Privatdetektiv hat einen misanthrophischen Charakter. Diese Ambivalenz, gepaart mit Chandlers poetischem Ton, macht seine Romane zu vielschichtigen Texten, die die Widersprüche und Ängste ihrer Zeit einfangen.

Philip Marlowe ermittelt weiter
Raymond Chandlers berühmter Detektiv Philip Marlowe ermittelt immer weiter, denn er hat zahlreiche Bücher und Filme inspiriert. Zu den bekanntesten Werken auf der Leinwand gehört neben „The Big Sleep“ (1946) mit Humphrey Bogart als Detektiv Marlowe, „The Long Goodbye“ (1973) von Regisseur Robert Altman, und „Farewell, My Lovely“ (1975) mit der Film-Noir-Ikone Robert Mitchum.
Auch im Kino jüngster Zeit blieb Marlowe lebendig: 2022 spielte Actionstar Liam Neeson in der Romanverfilmung „Marlowe“, basierend auf einem Roman von John Banville, der diesen unter dem die Synonym Benjamin Black publizierte, die Rolle des Privatdetektivs.
Marlowes Charakterzüge inspirierten zahlreiche TV-Serien, und andere Kriminalromane, in denen der harte, aber moralisch standhafte Detektivtyp eine zentrale Rolle spielt. Ein bisschen Marlowe steckt in jedem harten Hund.