Es ist ein beschauliches Bergdorf, das schweizerische Leukerbad. Hierher reist James Baldwin 1951, um an seinem Debütroman „Von dieser Welt“ zu arbeiten. Baldwins Erzählung über Race, Identität, Sexualität und Religion im Harlem der 1930er Jahre, die die tiefen Konflikte und inneren Kämpfe eines jungen afroamerikanischen Mannes beleuchtet, entsteht ausgerechnet in diesem kleinen Schweizer Ort, dessen Bewohner noch nie zuvor einen Schwarzen Mann gesehen hatten.
Die Erlebnisse, der Rassismus und das Aufeinanderprallen der Kulturen verarbeitet Baldwin später, 1953 erstmals veröffentlicht im „Harper's Magazin“, im Essay „Fremder im Dorf“. Im Mai 1953 erscheint schließlich „Von dieser Welt“, nachdem Baldwin viele Jahre an dem Roman arbeitete. Seit den 1940er-Jahren schrieb er sporadisch an der Geschichte von John aus Harlem, eine Figur, die so viele autobiografische Ähnlichkeiten zu Baldwin aufweist.
Lange fand er nicht den richtigen Ton, die passende Sprache für den Roman. Die Sprache fand Baldwin erst in der Ferne, im Exil. Er verließ seine Heimat New York. Er kehrte Harlem den Rücken. Im schweizerischen Leukerbad schließlich schreibt James Baldwin den ersten Satz von „Von dieser Welt“. Es ist der Beginn einer bedeutenden literarischen Karriere.
James Baldwin: Ein Porträt
James Baldwin wurde 1924 in Harlem, New York, in eine Zeit geboren, die von sozialen Ungerechtigkeiten, Spannungen und rassistischer Diskriminierung geprägt war. Rassenhass und Armut gehörten in seinen jungen Jahren zum Alltag. Baldwin wuchs bei seinem Stiefvater, einem Baptistenprediger, auf, hatte sein Leben lang ein angespanntes Verhältnis zu Religion. Der junge Afroamerikaner wendete sich der Literatur zu. Doch wie sollte er im rassistischen Amerika vom Schreiben leben, gar Erfolg haben?
1948 zieht er nach Frankreich, nach Paris, ins freiwillige Exil. Seine Ursprünge lässt er nur räumlich hinter sich, seine Herkunft prägen sein Schreiben und seine künstlerische Arbeit stark. Wie Baldwins Leben und Arbeit zusammenhängt, beschreibt Baldwin-Kenner René Aguigah im kürzlich bei C. H. Beck erschienenen Porträt des Schriftstellers.
Keine Protestliteratur
Im Sommer 1949 publiziert Baldwin einen Essay mit dem Titel „Everybody's Protest Novel“, der viel gelobt wird. Baldwin wird als vielversprechender Schwarzer Autor gelobt, wird verglichen mit seinem Mentor Richard Wright. Im Essay rechnet er mit den Protestbüchern seiner Zeit ab, die Widersprüche und Ambivalenzen ignorieren und selbstgerecht, pamphletartige Thesen verbreiten würden. Das Falsche würde stets bei den anderen gesucht, nie bei sich selbst.
Mit der Kritik trifft Baldwin auch Richard Wright, es kommt zum Bruch. Trotzdem wird Baldwin dem Credo treu bleiben. Protestliteratur schreibt der Schwarze Autor nie.
Herkunft und Identität
Es ist nicht nur die Identität als Schwarzer Mann, die eine große Rolle in Baldwins Werk einnimmt. Als homosexueller Mann verarbeitet er auch queere Themen in seinen Romanen. 1956 veröffentlicht er seinen zweiten Roman „Giovanni's Zimmer“.
Im Pariser Winter 1950 lernt Baldwin den siebzehnjährigen Lucien Happersberger kennen, eine Begegnung, die Ähnlichkeiten mit der zwischen David und Giovanni in „Giovanni's Zimmer“ aufweist. Eine monogame Beziehung will Happersberger nicht, er reist mit Baldwin aber ins Chalet seiner Familie im Schweizer Leukerbad, wo „Von dieser Welt“ in großen Teilen entsteht.
Die USA steuern auf den Höhepunkt der McCarthy Ära zu, der Hass gegen Homosexuelle war Alltag in der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein Text wie „Giovanni's Zimmer“ ist ein Tabubruch und ein Wagnis. Heute gilt der Roman als eines von Baldwins wichtigsten Werken.
Baldwin und das Civil Rights Movement
Baldwin kehrt aus Paris zurück in die USA. Dort engagiert er sich in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, schreibt Essays und Reden, wird zu einer Schlüsselfigur des Civil Rights Movement. Die Stimmung in den USA ist brandheiß. Malcom X, Martin Luther King Jr. und Medgar Evers werden erschossen. Baldwin kehrt zurück nach Paris.
2017 rückte diese Phase aus Baldwins Leben wieder in den Fokus der Öffentlichkeit, Raoul Pecks Dokumentarfilm „I'm Not Your Negro“ beleuchtete dieses Kapitel der jungen amerikanischen Geschichte.
Zum 100. Geburtstag Baldwins: Schöpfer einer Schwarzen Ästhetik
Als James Baldwin 1987 im französischen Künstlerdorf, seiner zweiten Heimat Saint-Paul-de-Vence stirbt, ist der 63-Jährige bereits eine Legende. Heute gilt er als einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller, er schuf eine Schwarze Ästhetik.
Seine Essays und Romane finden eine begeisterte Leserschaft. Seine Werke inspirieren zeitgenössische Autoren und Autorinnen literarisch und ästhetisch, etwa Ta-Nehisi Coates, Colson Whitehead, Toni Morrison, Yaa Gyasi oder Sasha Marianna Salzmann.
Am 2. August 2024 wäre James Baldwin 100. Jahre alt geworden. Die Texte des scharfsinnigen Kritikers sind wichtige Zeugnisse der politischen und sozialen Verhältnisse seiner Zeit. In einer Ära, in der die USA und die Welt weiterhin mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der kollektiven Erinnerung ringen, erweist sich Baldwins Werk als erschreckend aktuell und unentbehrlich. Kein Wunder also, dass seine Stimme gerade heute – etwa mit Blick auf die Themen des US-Wahlkampfs – eine so mächtige Resonanz findet.