Buchkritik

Bernadine Evaristo – Zuleika

Stand
Autor/in
Marie Schoeß

London unter römischer Herrschaft: In ihrem Roman „Zuleika“ geht Bernadine Evaristo auf Zeitreise ins antike Londinium. Das Mädchen Zuleika – zugewandert aus dem Sudan – wird an einen fetten Römer verheiratet.
„Zuleika“ ist ein Versepos, das die britische Autorin Bernadine Evaristo schon vor gut 20 Jahren schrieb und damals unter dem Titel „The Emperior’s Babe“ veröffentlichte. Seit sie 2019 den Booker Prize erhielt, werden ihre Werke ins Deutsche übersetzt und auch bei uns entdeckt.

Was soll denn das? Diese Autorin, die für ungemein gegenwärtige Themen und Texte bekannt ist, für politisch-engagierte Literatur, die einen packt, weil sie viel mit der eigenen Zeit, mit eigenen Verletzlichkeiten, Unsicherheiten zu tun hat, diese Autorin springt ins 2. nachchristliche Jahrhundert? Und erzählt in Versen? Eine Art Epos – quasi auf den Spuren von Vergil und Homer?

Ein Anti-Epos

Tut sie nicht, also tut sie schon. Aber anders. Wenn dieses Buch ein Epos ist, dann ein Anti-Epos. Eine Provokation der Tradition. Personal, Ton, Takt unterlaufen die klassischen Muster:

Was waren alle neidisch auf mich, die bella negrita
aus einem Hinterzimmer an der Gracechurch Street,
die sich ’nen Patrizier aus Rom geangelt hat,
obwohl ihre Eltern übers Meer aus Khartum kamen,
ganz ohne glänzenden Thron und goldenes Heck,
stattdessen proppenvoll mit kotzenden Blagen
und Kühen, die ihnen dampfende Fladen
auf die nackten Füße kackten. So parfümiert
zogen sie nach Londinium ein, auf einem Esel,
mit schmalem Geldbeutel und fetten Träumen.

Hier spricht: Zuleika. Eine junge Frau, oder besser: ein Mädchen, das mit 11 Jahren verheiratet wird – ein echter Glücksfall, der Mann ist Römer, und will sie trotzdem, diese schöne Schwarze ohne Geld, eigentlich ja noch ein wildes Kind, das bisher unbehelligt, mit nichts als einer Freundin durch die Straßen zog, jetzt aber das Haus nur noch auf einer Sänfte verlassen darf.

Ein Glücksfall also – immerhin für die Eltern, für das Mädchen, das sich nach der ersten gemeinsamen Nacht wie tot fühlt, nicht ganz:

Rund um das Hochzeitsbett flackerten Flammen.
Er drapierte mich, schälte die Schichten von mir ab
wie feuchte Rosenblätter, lutschte an meinen Zehen,
nannte mich mea delicia, spreizte mir die Beine
und hielt mir eine Kerze an die Vulva, bis die Flammen
drohten, als Schrei aus meinem Mund zu lodern,
aber da lag ja seine Hand. ((Ich sackte weg.
Pluto griff in dieser Nacht nach mir,
und jedes Mal, wenn ich erwachte, war es wieder
meine erste Nacht im Reich des Todes.))

Pidgin-, Jugendsprache und Latein

Bernadine Evaristo springt hier tatsächlich ins 2. Jahrhundert nach Christus, Großbritannien steht unter römischer Herrschaft, Gewalt ist an der Tagesordnung und Migration schon damals: ein Normalfall. Überhaupt ist Evaristos „Londinium“ immer auch das London unserer Zeit – was die Autorin wie ihre famose Übersetzerin Tanja Handels in jeder Zeile hörbar macht: Pidgin- und Jugendsprache stoßen da auf Fetzen Latein, der Sound der antiken Villen clashed mit dem aus den Straßen der Gegenwart. 

Ich kam dann zu Clarissa, einer arroganten
Römer-Bitch, die mir Benimmstunden erteilte, ich lernte reden, essen, furzen,
mein amo amas amat runterbeten und mein Plebejer-Kreolisch in die Tonne treten.
Zuleika accepta est.
Zuleika delicata est.
Zuleika Scheiß-Musterkind vom Dienst est.

Diese Sprache ist nie fauler Kompromiss, nie scheinbar zeitlos oder bloß gemäßigt antiquiert. Es wirkt, als wären Tonspuren aus verschiedenen Jahrhunderten, verschiedenen Stadtvierteln übereinandergelegt – und mal wird die eine Spur hochgezogen, dann die andere. Das 2. Jahrhundert ist es: nie ganz. Nie ganz: Hier und Jetzt.

Jeder Satz operiert im unheimlichen Grenzgebiet des Dazwischen – und das nicht bloß sprachlich. Evaristo arbeitet in diesem Versroman an den Grenzen von Räumen, Zeiten, Genres. Rom ist zu dieser Zeit Aggressor, wie es Großbritannien in der jüngeren Geschichte war – die imperiale Gewalt des römischen Reiches stößt einen direkt auf die koloniale Gewalt Großbritanniens, von der Antike zu lesen, ohne an die Moderne zu denken: ausgeschlossen.

Die Geschichte der Sieger

Und auch die etabliere literarische Form wird nur genutzt, um das Etablierte aus den Bahnen zu werfen. Das Epos stabilisierte, begründete, feierte ein Imperium, Epos und Empire haben eine unheimliche Nähe. Evaristo aber nagt an den Geschichten der Sieger, befragt die Allianz von Schrift und Macht.

Und überlässt es schließlich Zuleika, in epischer Form die epische Tradition zu zerlegen.

Er hat mir die Ilias von Homer zu lesen aufgedrängt,
die ich, ganz ehrlich, so richtig öde fand.
Nichts als Belagerung von Troja. Wen interessiert das?
Geht’s vielleicht noch altmodischer?
(…)
(…) weißt du, Dad, was ich eigentlich lesen
und hören will, ist etwas über uns und jetzt,
über Leute aus Nubia in Londinium, über Männer,
die sich anziehen wie Frauen, über außereheliche
Betrügereien, über Mädchen, die ältere
Männer heiraten, und apropos,
wie sagt es Plinius, der große Gott, so schön?
Die eine ist zu früh, der andere zu spät (räusper!).

Das hier ist ein früher Text von Bernadine Evaristo. Ihr zweiter Roman. Aber der Mut, der aus ihm spricht, ist der Mut einer reifen Autorin. Einer, die sich vorgenommen hat, in jedem Buch etwas zu riskieren, in jedem Buch zu testen, was Literatur kann, und sich selbstbewusst der klassischen Mythen und Motive zu bemächtigen.

Eine Venus gibt’s zum Beispiel in diesem Text, aber eine Liebesgöttin ist sie nicht. Oder vielleicht schon – aber nichts da mit stiller Größe.

Ganz „Glamourschein aus Glitzerwitz“ ist sie. Queer, Kneipenbesitzerin, Zuleikas Alma mater, liebevoll, derb, lebensklug. „Entweder du bist ‘n Fickfigürchen oder ‘n verfickter Freak“ – eine ihrer Weisheiten. Und unrecht hat sie nicht.

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Autor/in
Marie Schoeß