Schon als kleiner Junge in Lagos hat sich der Schriftsteller Teju Cole für die Bilder von Caravaggio interessiert. Doch warum ist die Begeisterung für den italienischen Maler geblieben, während sie für andere Künstler mehr und mehr nachließ? Es könne nicht die technische Meisterschaft sein, denn die Gemälde hätten hinsichtlich ihrer Komposition häufig sogar Schwächen, überlegt Cole im Caravaggio- Essay seines neuen Buches „Black Paper“.
Vielmehr habe Caravaggio „mehr von sich selbst, von seinen Gefühlen“ in die Gemälde einfließen lassen, als irgendwer vor ihm. Der Italiener ist für Cole jemand, der verborgene Wahrheiten kannte und ins Bild gesetzt hat. „Wenn er Leiden darstellte“, schreibt Cole, „dann deshalb so verblüffend gut, weil er auf beiden Seiten des Leidens stand: Er hat es anderen zugefügt und es am eigenen Leib erfahren.“
Der einleitende Essay ist einer der besten des Bandes, der insgesamt 26 ganz unterschiedliche Texte versammelt. Cole plädiert darin für wache Sinne, er will unser Sensorium für die Zumutungen und Ungeheuerlichkeiten der Existenz schärfen. Literatur, Malerei, Fotografie und Musik werden in den Essays mit Blick daraufhin begutachtet, was sie dazu beitragen können, also was sie über die dunklen Seiten des Lebens wissen.
Cole hört Beethoven und liest Stendhal, Rilke und Joyce. Und er liebt das Unterwegssein. „Ich bleibe nie sehr lange an einem Ort. Ich habe ein halbes Dutzend Städte als mein Zuhause kennengelernt“, schreibt der 47-jährige Autor. Von dieser Unrast zeugen auch seine Essays. Cole erzählt aus Beirut, Berlin, Oslo und von vielen anderen Orten.
In dem Roman „Open City“, der Cole berühmt gemacht hat, streifte ein junger Mann durch New York und ließ seinen Assoziationen freien Lauf. Ganz ähnlich ergeht es Teju Cole selbst. Er wittere nach Orten unter Spannung, Plätzen voller Energie und Geschichte, hat er einmal gesagt.
Die Beschäftigung mit Caravaggio führt Cole nach Italien. Eigentlich will er sich nur die Gemälde in Rom und Mailand ansehen, dann entschließt er sich, alle Orte zu besuchen, an denen sich der Maler in den Jahren seiner Verbannung aus Rom aufgehalten hat. Cole fährt also nach Neapel und nach Sizilien.
Hier wird ihm klar, dass er damit ungeplant an den Brennpunkten der gegenwärtigen Einwanderungskrise angelangt ist. Im äußersten Süden der Insel betritt er Flüchtlingsboote, die gerade geborgen wurden, und wird von Trauer überwältigt: „Plötzlich sackte ich auf die Knie und begann zu schluchzen. In meiner Brust hämmerte es, meine Tränen flossen“, erinnert er sich.
Solche Augenblicke sind für Cole zentral. Es geht ihm darum, sich von der Wirklichkeit ergreifen zu lassen, nicht abgestumpft und kühl die Dinge auf Distanz zu halten. Die Sizilien-Erfahrung klingt nach. Cole greift sie in einem Text noch einmal auf, der unter der Kapitelüberschrift „Mit allen Sinnen“ steht.
Intellektuell habe er die traurige Realität hinter den Booten rasch registriert und begriffen. Er musste sie riechen, so rekapituliert er, um tiefer berührt zu sein und in Tränen auszubrechen. „Genau deshalb reise ich, lese ich, interessiere ich mich für die Kunst“, erklärt Cole, „um zu ergründen, zu empfinden, zu erzittern, um die Gefahr zu bannen, dass konkrete Fakten nur eine passive oder gar nutzlose Reaktion erzeugen“.
Aber Momente der Überwältigung, die das Herz schneller schlagen lassen und den Puls in die Höhe treiben, sind nicht planbar. Die Intensität des Fühlens, wie sie Teju Cole an der süditalienischen Küste erlebt, als er zwischen den Booten weinen muss, stellt sich an anderen Orten nur schwerlich ein. Bei seinem Besuch auf der norwegischen Insel Utøya nach dem Massaker gelingt es ihm nicht, das kaum Fassbare zu greifen.
Auch davon ließe sich erzählen. Aber das tut Cole nicht, stattdessen bleiben manche seiner Texte bloß im Ungefähren, sind eher eine Aneinanderreihung von Gedankensplittern als durchkomponierte Essays. Die Lektüre des Bandes „Black Paper“ lohnt sich trotzdem. Denn die besten Essays sind von einer überzeugenden und faszinierenden Vielschichtigkeit. Sie berichten davon, wie überlebenswichtig es von jeher war, sich auch im Dunkeln zurechtzufinden und wie nützlich dafür wache Sinne sind.