Diskutiert wurde das Buch auf Platz 1 der SWR Bestenliste Juni 2023:
Wenn das Nachwort, in diesem Fall verfasst von der Schriftstellerin Zadie Smith, zu einem literarischen Text mehr als doppelt so lang ist wie das eigentliche Werk selbst, dann muss etwas ganz Besonderes geschehen sein.
Und in der Tat: „Rezitativ“ ist die einzige Erzählung, die die amerikanische Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison jemals veröffentlicht hat. Im Original erschien der rund 40 Seiten starke Text im Jahr 1983; nun liegt er erstmals in deutscher Übersetzung vor.
„Rezitativ“ ist eine literarische Versuchsanordnung, aber ganz gewiss kein Spiel, sondern vielmehr eine profunde Analyse gesellschaftlicher Strukturen von Zuschreibung und Rassismus.
Twyla und Roberta sind acht Jahre alt und lernen sich im Kinderheim kennen, wo sie gemeinsam vier Monate verbringen sollen. „Twyla, das ist Roberta. Roberta, das ist Twyla. Seid nett zueinander“, sagt die Erzieherin im Heim, als Twyla dort abgeliefert wird, und dem Mädchen passt es überhaupt nicht, das sie mit einem Mädchen von anderer Hautfarbe in einem Zimmer zusammenleben soll.
Also: Eine ist schwarz, die andere weiß. Nur: Wer ist was? Wenn man „Rezitativ“ mit Studierenden lese, so schreibt Zadie Smith im Nachwort, „fühlt sich die Gruppe immer unwohler mit der eigenen Gier, diese Frage zu klären, vielleicht, weil die meisten Versuche, sie zu beantworten, mehr über die Lesenden offenbaren als über die Figuren.“
Eine Detektivarbeit: Wer bevorzugt welche Gerichte? Wer trägt welche Kleidung? Und spricht welche Worte aus? Hat das überhaupt etwas zu bedeuten? Die Mädchen werden Freundinnen, verlieren sich aus den Augen, begegnen sich immer wieder. Doch über die entscheidenden Fragen werden sie sich nicht einig werden. Ein irritierender Text, befreit von sämtlichen rassifizierenden Codes.