Tanzen lernen mit fünf Jahren
Schon als Kind besuchte sie Tanzkurse. Ihre erste Lehrerin unterrichtete Ausdruckstanz, kein klassisches Ballett: „Diese Freiheit des Ausdrucks war mir schon sehr früh wichtig", erinnert sich Waltz im Interview mit SWR Kultur. Besonders die Mischung aus klassischer Musik, Improvisation und Bewegung faszinierte sie.
Die Umgebung war ungewöhnlich: Das Tanzstudio war das Wohnzimmer der Lehrerin, mit Bildern und der Atmosphäre eines Künstlerhauses. Zuerst wollte sie bildende Künstlerin werden, aber ein Workshop im zeitgenössischen Tanz veränderte alles: Sie fand ihre künstlerische Sprache im Tanz.
Früh übt sich: Ein Leben zwischen Kunst und Chaos
„Ich denke an den Raum, noch bevor ich an Bewegung denke“ – mit diesem Satz beschreibt Sasha Waltz das Fundament ihrer Arbeit. Geboren 1963 in Karlsruhe, wächst sie in einem künstlerisch geprägten Haus im Südwesten auf. Die Mutter: Galeristin. Der Vater: Architekt. Das Zuhause: eine Galerie mit Küche.
Kunst ist immer da, manchmal zu viel. „Ich habe das als Kind manchmal als unruhig und anstrengend empfunden, aber es hat mich stark geprägt“, erinnert sie sich. Doch es ist diese Offenheit, dieses Alltagskünstlerische, das sie prägt. Schon zu Beginn ihrer Karriere arbeitet sie nicht allein, sondern mit Gruppen – Teamarbeit ist für sie künstlerisches Prinzip.

Von Karlsruhe, nach Amsterdam, nach New York
Nach der Schule geht Sasha Waltz nach Amsterdam an die School for New Dance Development, eine der damals wichtigsten Ausbildungsstätten für zeitgenössischen Tanz. Anschließend zieht sie nach New York. Dort begegnet sie der legendären Choreografin Anna Halprin.
Halprins Arbeit mit Improvisation, Körperarbeit und sozialen Themen hinterlässt bleibenden Eindruck. Waltz entdeckt Tanz als Mittel des Ausdrucks, der Forschung und des Widerstands. Die Erfahrungen in New York prägen ihr Verständnis von Choreografie bis heute: als offene Struktur, die Raum schafft – für Gemeinschaft, Reibung und Wandel.

Der Durchbruch: Geschichten aus dem Alltag
1993 wurde Sasha Waltz mit ihrer Trilogie Travelogue bekannt. Das erste Stück „Twenty to Eight“ spielt in einer WG-Küche. Es zeigt das Zusammenleben junger Menschen – mit allem, was dazugehört: Konflikte, Diskussionen, Nähe und Reibung. „Ich wollte die Kämpfe, die Leidenschaft verhandeln“, sagt Waltz rückblickend.
Die Stücke dieser Zeit waren stark vom Alltagsleben inspiriert und setzten sich mit sozialen Themen auseinander. Sie hatten einen realistischen, fast dokumentarischen Stil und gelten heute als Meilensteine, weil sie Tanz und Theater auf neue Weise verbanden und den Alltag auf die Bühne brachten. Für viele junge Choreograf*innen wurden sie zum Vorbild.
Für mich geht es um den Raum zwischen Kunst, sozialem und gesellschaftlichem Engagement.
In dieser kreativen Umgebung traf sie auf Künstler*innen, mit denen sie intensive Arbeitsprozesse entwickelte, und viele von ihnen blieben ihr über Jahre hinweg verbunden. Aus dieser engen Gemeinschaft heraus gründete sie im selben Jahr mit ihrem Lebenspartner Jochen Sandig die Dance Company. Zudem gründete sie in Berlin die Sophiensaele (1996), das Radialsystem (2006) und eröffnete Orte wie die Elisabethkirche.

Räume befragen statt bespielen
Ihre Stücke sind kein klassisches Tanztheater à la Pina Bausch. Ihr Werke sind immer stark mit dem Raum, der Musik und einer gewissen Narration verbunden. Für Allee der Kosmonauten sprach sie mit Familien aus Ost-Berliner Plattenbauten. Daraus entwickelte sie ein Tanzstück, das den Alltag, Spannungen und die Architektur dieser Lebenswelt zeigte. „Ich wollte mehr über die Gesellschaft sagen, über die Probleme, die wir auch heute noch haben.“
Mit „Körper“ im Jahr 2000 gelingt Sasha Waltz ein internationaler Durchbruch. Das Stück untersucht die Verletzlichkeit, Kraft und Struktur des menschlichen Körpers. Er wird hier nicht verschönert, sondern in all seinen Möglichkeiten und Grenzen erforscht. Waltz beschreibt es bei SWR Kultur als radikalen Akt: „Ich wollte den Raum so nackt zeigen wie den Körper.“ „Körper“ wurde zum internationalen Erfolg und ist bis heute im Repertoire.

Wenn Oper tanzt
Auch in der Oper sprengt sie Konventionen, will feste Rollen aufbrechen. In ihrer Inszenierung von „Dido and Aeneas“ wird Tanz zum zentralen Erzählelement und nicht nur als schmückendes Zwischenspiel gesehen. Der gesamte Bühnenraum wird zum kollektiven Körper, wie sie es nennt – Sänger*innen, Musiker*innen und Tänzer*innen verschmelzen das Geschehen.
Auch politisch ist Sasha Waltz aktiv. Ihre Kompanie Sasha Waltz & Guests unterstützt Künstler*innen aus Belarus, Syrien und anderen Krisenregionen – durch Residenzen, Auftrittsmöglichkeiten und Austauschprojekte. „Für mich geht es um den Raum zwischen Kunst, sozialem und gesellschaftlichem Engagement“, sagt sie gegenüber SWR Kultur.
Tanz als gesellschaftliche Plattform
Die Corona-Zeit verändert alles. Tourneen sind unmöglich, internationale Produktionen gestoppt. Waltz reagiert mit dem Stück In C. Ein modulares Stück zur Musik von Terry Riley. Es kann weltweit in verschiedenen Besetzungen aufgeführt werden, mit lokalen Gruppen, Tutorials, wenig Ressourcen und ist offen für Laien wie Profis. Es geht um kollektive Intelligenz und flexible Strukturen – eine Choreografie der Zukunft. Dass Tanz nicht mehr von globalen Tourplänen abhängt, sondern lokal wurzeln kann, wird für sie zur Zukunftsvision.
Krisen als Wendepunkte
Sasha Waltz ist eine Künstlerin, die Krisen nicht nur durchlebt, sondern in ihre Arbeit übersetzt. Ob der plötzliche Tod der Mutter oder ein körperlicher Zusammenbruch nach der Pariser Premiere von Roméo et Juliette, sie spricht offen über Erschöpfung, Schuldgefühle und das Gefühl, zu viel geben zu wollen. Und anstatt zu brechen, hat sie in diesen Momenten immer wieder neue künstlerische Wege gefunden – oft radikaler, freier, direkter.
Oder das Scheitern der Co-Intendanz beim Staatsballett Berlin – 2019 wurde sie gemeinsam mit Johannes Öhman zur Co-Intendantin des Staatsballetts Berlin berufen. Das Experiment, Klassik und Moderne unter einem Dach zu vereinen, stieß jedoch auf Widerstand. Die Auseinandersetzungen mit Teilen des Ensembles, fehlende strukturelle Reformen und der Druck der Institution führten 2020 zu ihrem Rückzug.

Gegen den Kulturstillstand
Heute, mit über sechzig, wirkt sie freier als je zuvor. Sie choreografiert Beethoven, Bach und Passionen, denkt in Werkzyklen und Repertoire. Sie schafft ein „lebendiges Archiv“ – wie die Wiederaufnahme von Twenty to Eight mit einer neuen Generation von Tänzer*innen zeigt (Tagesspiegel, 2025). Ihr Motto: „Mit Kraft den Wandel weiterbringen und uns als Künstler als ein wichtiges gesellschaftliches Medium sehen“.