Was ist der Vorwurf?
Die Missbrauchsfälle in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal betreffen physische, sexuelle und psychische Gewalt, die über Jahrzehnte an Heimkindern verübt wurde. Zwischen 1950 und 1970 erlitten zahlreiche Kinder in den Einrichtungen Hoffmannhaus und Flattichhaus schweres Leid.
Der Missbrauch blieb lange unentdeckt, auch weil die Brüdergemeinde als pietistisch und konservativ galt und so Schweigen und Vertuschung begünstigt wurden. Ehemalige Heimkinder, unter ihnen auch Detlev Zander, der im Dokumentarfilm „Kinder aus Korntal“ zu Wort kommt, fassten den Entschluss, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Die Aufarbeitung begann erst 2013, als erste Vorwürfe laut wurden. Bis heute fordern die Opfer eine umfassende Anerkennung und Gerechtigkeit.
Nominiert für den Deutschen Dokumentarfilmpreis 2024 Die Kinder aus Korntal
Herzzerreißende Schicksale und dunkle Geheimnisse treten nach Jahrzehnten ans Licht und lassen hinter die Fassade der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal blicken.
Wer sind die Opfer und wie viele?
Die Anklage gegen die Brüdergemeinde wurde maßgeblich von Detlev Zander und weiteren ehemaligen Heimkindern vorangetrieben. Zander, der 14 Jahre im Hoffmannhaus lebte, berichtete von täglichen Demütigungen und sexualisierter Gewalt. Inzwischen haben über 260 ehemalige Heimkinder berichtet, in Korntal Opfer von Misshandlungen geworden zu sein.
Diese Menschen erlitten nicht nur körperliches, sondern auch seelisches Leid, das sie oft ein Leben lang verfolgt. Viele Betroffene haben ihre Stimme in Selbsthilfegruppen gefunden, um den Druck auf die Brüdergemeinde zu erhöhen und eine vollständige Aufarbeitung der Geschehnisse zu erzwingen.
Regisseurin Julia Charakter über ihren Film
Was genau geschah im Heim der Evangelischen Brüdergemeinde?
In den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal wurden die Kinder über Jahre hinweg misshandelt und psychisch gedemütigt. Zu den häufigsten Übergriffen gehörten brutale Prügelstrafen, sexueller Missbrauch durch Hausmeister und Erzieher sowie seelische Grausamkeiten. Kinder wurden stundenlang in Isolation gesteckt oder gezwungen, ihr eigenes Erbrochenes zu essen.
Die Kinder, die sich widersetzen wollten, wurden weiter schikaniert und erniedrigt. Besonders die hierarchischen und autoritären Strukturen der Brüdergemeinde ermöglichten den Missbrauch. Die Täter konnten weitgehend unbehelligt agieren, ihre Opfer hatten keine Möglichkeit, sich zu wehren.
Wie reagierte die Brüdergemeinde?
Die Evangelische Brüdergemeinde reagierte zunächst mit Ablehnung und Schweigen auf die Vorwürfe. Eine unabhängige Untersuchung wurde erst spät eingeleitet, nachdem der öffentliche Druck zunahm und sich die Justiz mit dem Fall auseinanderzusetzen begann. Der Versuch der Gemeinde, die Aufarbeitung selbst zu lenken, wurde von den Betroffenen stark kritisiert.
Auch heute gibt es Widerstände innerhalb der Gemeinde, die volle Verantwortung für die Taten zu übernehmen. Zwar hat die Gemeinde in einigen Fällen Entschuldigungen ausgesprochen, doch der Vorwurf bleibt bestehen, sie habe den Missbrauch lange vertuscht. Viele Opfer fühlen sich von der Brüdergemeinde bis heute nicht ernst genommen.
Gab es unabhängige Untersuchungen oder wissenschaftliche Aufarbeitungen der Missbrauchsfälle?
Erst 2013, viele Jahre nach den ersten Hinweisen auf Missbrauch, setzte die Brüdergemeinde eine Kommission zur Untersuchung der Vorfälle ein. Diese Kommission war jedoch zunächst stark von der Gemeinde selbst kontrolliert, was zu Kritik führte. Erst nach öffentlichem Druck und Medienberichten wurde eine umfassendere, unabhängige Aufarbeitung eingeleitet.
Zahlreiche Betroffene fordern bis heute eine umfassendere wissenschaftliche Untersuchung, die auch die gesellschaftlichen und institutionellen Versäumnisse beleuchtet. Es gibt nach wie vor noch keinen vollständigen Abschlussbericht, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zieht sich in die Länge.
Ehem. Richterin Baums-Stammberger und Missbrauchsopfer Hoeckh | 25.12021 Die Missbrauchsfälle in Korntal
Ein bestürzendes Bild der Heimerziehung in Baden-Württemberg vor allem in den 50er und 60er Jahren wurde in Korntal öffentlich. Viele Kinder erlitten Gewalt.
Wurden die Opfer entschädigt, und wie sieht die juristische Aufarbeitung aus?
Einige Opfer erhielten in den letzten Jahren finanzielle Entschädigungen, doch viele Betroffene kritisieren die Höhe der Zahlungen als unzureichend. Detlev Zander, einer der prominentesten Betroffenen, hat 1,3 Millionen Euro Schadenersatz gefordert, was von der Brüdergemeinde jedoch abgelehnt wurde.
Juristisch ist die Aufarbeitung komplex, da viele der Taten verjährt sind. Dennoch haben mehrere Opfer Klagen eingereicht, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Entschädigungszahlungen allein reichen den meisten Betroffenen jedoch nicht aus – sie fordern vor allem Anerkennung ihres Leids und einen respektvollen Umgang mit ihrer Geschichte.
Vielleicht bringt das nochmal Änderungen mit sich: In der evangelischen Kirche haben sich Betroffene sexualisierter Gewalt und kirchliche Verantwortliche auf ein Entschädigungsverfahren geeinigt. Bisher sind die Anerkennungsleistungen in den Landeskirchen unterschiedlich geregelt.
Wie reagiert die Evangelische Brüdergemeinde auf den Film „Die Kinder aus Korntal“?
In einer öffentlichen Stellungnahme reagiert die Leitung der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal auf die Darstellung der Ereignisse im Dokumentarfilm von Julia Charakter. Der Film erwecke den Eindruck, die Brüdergemeinde und ihre Diakonie würden weiterhin Unrecht legitimieren, vertuschen und bagatellisieren, heißt es im Schreiben. Dies sei nicht der Fall.
Zudem verweist die Stellungnahme auf Maßnahmen, die seit den 1980er-Jahren ergriffen wurden, um die Kinder, die seither in den der Pflegeeinrichtung lebten, vor weiterem Missbrauch zu schützen.