Am 25. Januar wird eine Studie veröffentlicht, die sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beleuchtet. Zu sehen ist hier ein Kreuz in der Aegidienkirche der evangelisch-lutherischen Marktkirchengemeinde.

Aufarbeitung sexueller Gewalt

Studie: Mehr als 2.000 Betroffene von sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche

Stand

In Hannover wurde am Donnerstag eine Studie über Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der evangelischen Kirche vorgestellt. Ein Betroffener aus BW erwartet ein "Beben".

Ein unabhängiges Forscherteam veröffentlichte am Donnerstag eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche. Es ist die erste bundesweite Studie dieser Art. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) fördert die Studie mit 3,6 Millionen Euro. Ein Betroffener, der jahrelang in einem evangelischen Heim in Korntal (Kreis Ludwigsburg) missbraucht wurde, ist bei der Vorstellung der Ergebnisse dabei.

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Fast 3.500 Beschuldigte durch Studie aufgedeckt

Die Studie hat für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1.259 Beschuldigte dokumentiert. Die Untersuchung von unabhängigen Forschenden spricht von der "Spitze des Eisbergs". Die ermittelten Fallzahlen von 2.225 Betroffenen basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannte Fälle ein. Die badische Landeskirche habe 88 Beschuldigte und 178 betroffene Personen anonymisiert an den Forschungsverbund gemeldet, hieß es. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen auf Grundlage ihrer Methode auf eine geschätzte Gesamtzahl von 3.497 Beschuldigten.

Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert. Ziel war, evangelische Strukturen zu analysieren, die Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Die Forschenden konnten nicht die Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten.

"Rabenschwarzer Tag" für die evangelische Kirche

Der in seiner Kindheit und Jugend in Korntal missbrauchte Detlev Zander betonte im Vorfeld, mit der Vorstellung der Studie könne die evangelische Kirche nicht weiter auf andere zeigen, wenn es um das Thema Missbrauch gehe. "Heute wird es ein Beben geben", so Zander am Donnerstag im Deutschlandfunk.

Für die evangelische Kirche sei es "ein rabenschwarzer Tag", so Zander, für Betroffene dagegen "ein guter Tag". In Rheinland-Pfalz haben drei Landeskirchen bereits eigene Zahlen zu sexuellem Missbrauch veröffentlicht.

Die Protestanten können nicht mehr sagen, Missbrauch gibt es nur bei den Katholiken. Diese Illusion ist ab dem heutigen Tag nicht mehr zu halten.

Detlev Zander hat in seiner Kindheit und Jugendheit in einem evangelischen Heim in Korntal (Kreis Ludwigsburg) sexuelle Gewalt erlebt. Er hat jetzt an einer Studie über Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgewirkt.
Detlev Zander hat in einem evangelischen Heim in Korntal (Kreis Ludwigsburg) sexuelle Gewalt erlebt. Er hat jetzt an einer Studie über Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland mitgewirkt. (Archivbild)

Keine direkte Verbindung zwischen Ehelosigkeit und Missbrauch von Kindern

Nach der Studie sieht der Theologe Magnus Striet auch die katholische Kirche weiter gefordert. "Das Erschrecken über den Missbrauch in evangelischen Pfarrhäusern und diakonischen Einrichtungen darf nicht dazu führen, dass der Druck von der katholischen Kirche genommen wird", sagte der Vorsitzende der Aufarbeitungskommission des katholischen Erzbistums Freiburg.

Laut Striet bestätigt die Studie, dass es keine direkte Verbindung zwischen der verpflichtenden Ehelosigkeit katholischer Priester und dem Missbrauch von Kindern gibt. Denn in der evangelischen Kirche gebe es keinen Zölibat und trotzdem viele Missbrauchsfälle. Es bestehe aber weiterhin ein indirekter Zusammenhang, betonte Striet. Denn das Zölibat locke auch Männer ins Priesteramt, die pädophil veranlagt sind oder Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität haben.

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Betroffene arbeiteten an Studie mit

Die Studie wurde vom interdisziplinären Forschungsverbund "ForuM - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" erstellt. Ziel der Studie ist es, eine empirische Grundlage für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den 20 evangelischen Landeskirchen, der EKD und der Diakonie zu legen. Dazu wurden neben Fallzahlen auch strukturelle Ursachen für Missbrauch und der Umgang mit Betroffenen erforscht. Betroffene waren zum Teil auch selbst als Co-Forschende beteiligt oder wurden zu ihren Erfahrungen befragt.

Der Betroffene Detlev Zander forderte innerhalb der evangelischen Kirche eine übergeordnete Stelle, die den Landeskirchen verpflichtende Anweisungen für Entschädigungszahlungen an Missbrauchsopfer gibt. Derzeit gebe es in der evangelischen Kirche einen Flickenteppich, sagte Zander dem Deutschlandfunk. Die Höhe der Anerkennungszahlungen hänge davon ab, in welcher Landeskirche der Betroffene lebe. Das dürfe nicht sein.

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Badische Landesbischöfin: Der Geschichte der Betroffenen stellen

Nach den Worten der evangelischen badischen Landesbischöfin Heike Springhart war der Umgang mit sexualisierter Gewalt auch in der badischen Landeskirche und ihrer Diakonie lange "von Versagen und Wegsehen geprägt". "Wir müssen uns den erschütternden Geschichten der Betroffenen stellen", erklärten Springhart und der Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Baden, Oberkirchenrat Urs Keller.

Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse zeigte sich die Diakonie Württemberg betroffen, dass Menschen in ihren Einrichtungen sexualisierte Gewalt erleben mussten. „Das ist nicht entschuldbar. Hinter jedem einzelnen Fall steht ein schweres Schicksal, das die Betroffenen bis heute, ein Leben lang schwer belastet. Wir müssen alles tun, aufmerksam und professionell aufgestellt sein, damit sexualisierte Gewalt möglichst nicht vorkommt“, sagte Oberkirchenrätin Annette Noller, Vorstandvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg in einer Mitteilung. Die Studie solle der Diakonie Württemberg nun helfen, ihren Schutz um die ihnen anvertrauten Menschen weiter zu verbessern.

Miriam Rassenhofer ist Leiterin der Sektion Kinder-​ und Jugendlichenpsychotherapie und Verhaltensmedizin an der Universitätsklinik Ulm. Sie hat untersucht, wie es in Einrichtungen der evangelischen Landeskirche Württemberg um den Schutz von Kindern und Jugendlichen steht.

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Kritik an der Studie: Zahlen nicht absolut setzen

Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing hat die Zuarbeit der evangelischen Landeskirchen bei der Erstellung der neuen Missbrauchsstudie kritisiert. Sie hätten die von den Forschenden angeforderten und von der EKD vertraglich zugesagten Daten und Akten nur schleppend und auch nur in Teilen geliefert, sagte er bei der Vorstellung der Studie. Zudem seien "teilweise auch qualitativ unzureichende Daten übermittelt worden".

Im Vergleich zur katholischen Kirche habe man dies auf evangelischer Seite "schlechter hinbekommen, obwohl es im Vorfeld vereinbart war", fügte Dreßing hinzu, der auch maßgeblich an der katholischen MHG-Missbrauchsstudie 2018 beteiligt war. Von den 20 evangelischen Landeskirchen habe nur eine einzige auch die Personalakten geliefert. Daher habe man sich bei den anderen zwangsläufig auf die weniger aussagekräftigen Disziplinarakten beschränken müssen.

Dreißig warnte davor, die Zahlen aus der Studie absolut zu setzen. Sie beruhten ausdrücklich nicht auf einer echten wissenschaftlichen Analyse, sondern nur auf einer "spekulativen Hochrechnung", was man immer dazusagen müsse.

Schmerzensgeld für Betroffene von sexualisierter Gewalt

Als Dachorganisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit 19,2 Millionen evangelische Christinnen und Christen. Betroffene sexualisierter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuelle freiwillige Leistungen stellen. Diese orientieren sich laut EKD an Schmerzensgeldzahlungen und liegen in der Regel zwischen 5.000 und 50.000 Euro.

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