Timm Ulrichs ist ein Autodidakt, ein Selfmade-Künstler, der sich wie kaum ein anderer Künstler selbst zum Kunstwerk gemacht hat. „Totalkünstler“ nennt er sich und sucht vor allem im Alltäglichen seine Inspiration. Die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen zeigt einen Querschnitt durch Timm Ulrichs ebenso scharfsinnigen, einfallsreichen Kosmos, der gern auch die Dinge gegen den Strich bürstet nach dem Motto: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen“.
Jedes Werk verbirgt Geschichten
Es ist vielleicht seine bekannteste Aktion: 1975 ging Timm Ulrichs, damals Kunstprofessor in Münster, mit Blindenstock, dunkler Brille und gelber Armbinde auf die Art Cologne. Um den Hals ein Schild mit der Aufschrift „Ich kann keine Kunst mehr sehen“ – sein Protest gegen einen aufgeblähten, völlig überzogenen Kunstmarkt.
Es dauert eine ganze wunderbare Weile, bis man mit diesem Künstler durch die Ausstellung gewandert ist. Denn hinter jedem Werk tun sich Geschichten auf.
Ulrichs nennt sich selbst Totalkünstler
Wie kein anderer, hat sich Timm Ulrichs selbst zum lebenden Kunstwerk gemacht: sich mit einer Tätowierung ein eigenes Markenzeichen verpasst, seinen Körper, Herzschlag, Pulsfrequenz eines einzelnen Tages vermessen oder sich auf der documenta von einem Detektiv beschatten lassen.
„Totalkünstler“ nennt er sich, der in der Kunst nicht das Erhabene, sondern das Alltägliche feiert:
„Totalkünstler hört sich an, als wenn ich von Hybris geschlagen wäre. Da will einer seine Nase in alle Töpfe stecken und behaupten, er könnte alles. Nein, sage ich. Ich kann gar nicht alles. Ich kann fast gar nichts. Ich würde sagen: ich bin ein Alltagskünstler. Aber von Geburt her, bin ich ein Sonntagskind.“ so Ulrichs.
Alles kann zur Kunst werden
In diesem Sinne kann bei Timm Ulrichs alles zur Kunst werden, worüber er im Alltag stolpert, was ihn stutzig macht oder provoziert, die Dinge mal anders zu sehen, gegen den Strich zu bürsten. „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen“ lauten seine letzten Worte auf einer Gedenktafel.
In einem anderen Werk lässt er 48 Plastikschafe aufmarschieren: eine Herde aus weißen und eine andere Herde aus schwarzen Schafen, die sich getrennt gegenüberstehen. Doch dabei hat sich jeweils ein Schaf auf die falsche Seite verirrt.
Scharfsinnig und verwegen
Scharfsinnig und schräg, kühn und verwegen ist die Kunst Timm Ulrichs: eine zum Gegenstand gewordene Idee, die gern auch zum Mitmachen einlädt. „Kunstpraxis“ steht auf einem kreisrunden, weißen Emaille-Schild. „Sprechstunden nach Vereinbarung“.
Und mit Zeitungsanzeigen hat er dann diese Praxis beworben, sagt Galerieleiterin Isabell Schenk-Weininger: „Wo er eben eine Kunstschule des Lebens ausgerufen hat. Oder einen Fanclub ausgerufen hat: möchten Sie mit einem berühmten Künstler befreundet sein. Aber eben auch Umschulung von künstlerischen auf nützliche Berufe anbietet. Da sich also wirklich ein Publikum generieren möchte durch diese direkte Ansprache über diese Zeitungsannoncen.“
Herrliche Ausstellung
Die blitzgescheiten Ideen scheinen diesem einfallsreichen Künstler nicht auszugehen. Auch wenn er mit 84 Jahren nicht mehr ganz so viel machen will. Vielleicht noch einen Katalog mit den gesammelten Werken, was jedoch nicht ganz so einfach wird.
So sagt Ulrichs: „Bei mir fragt sich natürlich, ob ich so einen Klebezettel, wo drauf steh „Zettel ankleben verboten“ – kommt das in den Oeuvre-Katalog? Das kann man ja so oder so sehen…“
Solange diese Frage nicht geklärt ist: unbedingt nach Bietigheim-Bissingen fahren und in diese herrliche Ausstellung eintauchen. Timm Ulrichs eigenwillig-fröhlicher Blick auf Kunst und Leben ist einfach ansteckend.
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