Totgesagte leben länger: „Millennial Punk“ fängt da an, wo andere Dokumentationen aufhören
Punk – damit verbinden die meisten Menschen bunte Stachelfrisuren, nietenübersäte Lederjacken, Rebellion und wütende Musik. Die Sex Pistols, die Ramones, vielleicht der kratzbürstige Campino der 80er Jahre: auf jeden Fall eine Bewegung, die ihre besten Tage hinter sich hat.
Doch die Geschichte des Punkrock endet nicht, im Gegensatz zu den meisten Dokumentationen über die Subkultur, in den 90er-Jahren. Im Gegenteil, genau hier setzt die vierteilige Doku-Serie „Millennial Punk“ an: Dort, wo andere Dokus aufhören, geht es hier erst richtig los.
Ist das noch Punkrock? Auf jeden Fall!
Fast siebzig Protagonist*innen der deutschen Punkszene kommen in der Serie zu Wort, erzählen chronistisch von ihren ersten Berührungspunkten mit der Subkultur und ihrer Vorstellung darüber, was das längst popkulturelle Phänomen Punkrock im neuen Jahrtausend für sie ausmacht.
Die meisten der Punk-Protagonist*innen der Serie waren zu Zeiten von Sid Vicious und Co. noch lange nicht geboren, müssen ihren Platz in der vermeintlich toten Punkwelt erst finden. Es zeigt sich schnell: Punk hat längst nicht mehr nur dieses eine Gesicht, das einst bekannt wurde.
Beim Punk herrscht immer Einigkeit? Von wegen!
Gleichzeitig erzählen Deutschpunker der ersten Stunde wie Axel von WIZO oder Dicken (Slime) von den Veränderungen, die alteingesessene Punks vor Herausforderungen stellten. Nicht immer sind sich die Punk-Generationen einig, gerade wenn es beispielsweise um den Umgang mit sozialen Medien geht – von StudiVZ bis Instagram, es scheiden sich die Geister. Das ist an vielen Stellen das Salz in der Suppe der Dokumentation.
Das rasante Tempo, in dem sich die Gesellschaft der Nullerjahre weiterentwickelt hat, schlägt sich auch im Schnitt der Serie nieder: Zwischen Wortbeiträgen und Musik finden sich immer wieder kurze Schnipsel Zeitgeschichte, die comicartig das Gesagte umrahmen. Das kann man hektisch finden, doch es spiegelt die post-millenniale Schnelllebigkeit der Zeit als Stilmittel hervorragend wider.
Eine große Portion Nullerjahre-Nostalgie
Natürlich geht es in „Millennial Punk“ nicht ohne eine gehörige Portion Nostalgie: Man fühlt sich zurückversetzt in Zeiten, als man sich neue Musik auf zwielichtigen Raubkopie-Börsen wie eMule oder Limewire besorgte und sich nachmittags in stümperhaftem HTML übte, um die MySpace-Seite aufzuhübschen.
Das fühlt sich ähnlich wohlig-warm an wie die zahlreichen musikalischen Einblendungen, die neben den großen Deutschpunk-Hymnen der Nullerjahre auch immer wieder gekonnt aktuelle Songs des Genres einfließen lassen – nebst Ausschnitten der zugehörigen Musikvideos. Auch die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache spielt eine zentrale Rolle.
Für Anhänger des deutschen Punks macht sich ohnehin schon nach wenigen Minuten Wohnzimmeratmosphäre breit, denn in der vierteiligen Doku gibt sich das Who is Who des deutschen Punks die Klinke in die Hand.
Punk ist noch immer eine Männerdomäne
Doch „Millennial Punk“ ruht sich nicht auf Sentimentalitäten längst vergangener Zeiten aus. Kritisch wird beispielsweise das Sexismus-Problem behandelt, das Punk und Musikindustrie nach wie vor haben: FLINTA* in Punkbands bleiben weiter die Ausnahme und haben es in der Männerdomäne Rockmusik selten leicht. Ihre Geschichten werden erzählt.
„Female Fronted“ Bands werden auch ein Vierteljahrhundert nach dem Millennium oft nur für die Quote anstatt für ihre Leistung gebucht. Frontfrauen wie Sarah von Akne Kid Joe oder Amy von Kopfecho greifen dieses Grundsatzproblem in ihren Songtexten auf und sprechen in der Serie über ihre Rollen in einer Männerwelt.
Punk ist und bleibt politisch
Neben musikalischen Protagonist*innen kommen auch Menschen zu Wort, die die Szene auf andere Art prägten und prägen: Da wäre Familie Lohmeyer, die mit ihrem Festival „Jamel rockt den Förster“ seit Jahren den Nazis im gleichnamigen Ort in Mecklenburg Paroli bieten. Oder Joachim Hiller, der vor über 30 Jahren mit dem Ox-Fanzine einen Grundstein für alternativen Musikjournalismus in Deutschland legte.
Als Galionsfigur des Punk immer wieder zu Wort kommt auch Fat Mike, der schier unendlich sympathische Frontmann der US-Band NOFX, der mit seinen „Rock against Bush“-Samplern in den Nullerjahren maßgeblich zur Politisierung der Punkszene auch in Deutschland beitrug und zahlreiche Acts mit seiner eigenwilligen Art inspirierte.
Die Doku erscheint brandaktuell
Doch es sind nicht nur die nostalgischen Momente, die das Punkherz bei „Millennial Punk“ höher schlagen lassen. Denn auch wenn die Aufnahmen der Dokumentation bereits fast zwei Jahre alt sind, wirkt sie im Angesicht von Kriegen, Klimakrise und aufkeimendem Rechtsextremismus aktueller denn je.
Den Macher*innen der Serie gelingt der Spagat zwischen launigen Wohlfühlmomenten und dem Ernst, der der Bewegung seit jeher innewohnt. Dabei wirkt die Serie zu keinem Zeitpunkt steif oder oberlehrerhaft, sondern stets authentisch – das gelingt nicht allen, die sich an Dokumentationen über eine so spezielle Subkultur probieren.
An einer Stelle der Dokumentation wird die Frage aufgeworfen, ob Songs gegen Faschismus überhaupt noch etwas bringen, wo doch schon fast alles gesagt und besungen sei. Wichtig sei vor allem eine Szene, die zusammenhält – und die präsentiert sich in der vierteiligen Doku von ihrer besten Seite.
„Millennial Punk“ ist eine kurzweilige Reise durch ein Vierteljahrhundert Punkgeschichte, nicht nur für Menschen, die in den letzten 25 Jahren ihre Jugend durchlebt haben. Gleichzeitig ist die Serie mit ihrer Vielschichtigkeit nicht nur für Punk-Fans ein spannendes Stück Musik- und Zeitgeschichte.