Mit „L’invisible“ komponierte der 2024 verstorbene Aribert Reimann 2017 seine letzte Oper. Es ist eine Meditation über den großen Unsichtbaren, den Tod, der plötzlich in unser Leben tritt nach Motiven des symbolistischen Dichters Maurice Maeterlinck. Jetzt zeigt die Oper Frankfurt eine Neuinszenierung von Daniela Löffner. Die musikalische Leitung hat der Neue-Musik-Experte Titus Engel übernommen.
„L‘invisble“, der große Unsichtbare, das ist der Tod. In jeder Familie ist er irgendwann zu Gast, meistens ungeladen. So ist das auch im ersten Teil von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper. „L’intruse“, der Eindringling, ist dieser ungebetene Gast, mit dem niemand rechnet.
In Daniela Löffners Inszenierung an der Oper Frankfurt sitzt die Familie an der langen Tafel. Zu feiern ist eigentlich die Geburt eines neuen Familienmitglieds. Das Kleine gibt aber noch keinen Laut von sich und die Mutter liegt krank im Kindsbett.
Lediglich der blinde Großvater ist der einzig Sehende in dieser Familie der Ahnungslosen. Er hört die Schritte des Eindringlings, hört die Türen, die Schritte. Und allmählich ahnen es die anderen auch. Dann schreit das Kind erstmals, in Reimanns Partitur als scharfe Bläserakkorde in der ansonsten dominierenden Streicherwüste. Zugleich wird der Tod der Mutter konstatiert.

Psychothriller à la Hitchcock
Inszeniert ist das als Psychothriller à la Hitchcock mit brillanter Ausdrucksmimik und präzisen Gesten an den unsichtbaren Türen und Fenstern. Die Celli knarzen in bedrohlichen Tremoli von Anbeginn, scharf akzentuiert von Titus Engel mit dem Frankfurter Opernorchester. Wenn der Tod eindringt, dann senkt sich von oben bedrohlich ein tentakelartiges Wurzelgeflecht.
Eine Angstskulptur, bekrönt von einem Garten-, Rasen- und Schilfidyll. Die Natur ist umgestülpt, denn im zweiten Teil blicken wir eigentlich in ein „Intérieur“, in dem wieder eine ahnungslose Familie sitzt.
Eine junge Frau hat sich das Leben im Fluss genommen, ein Fremder die Leiche herausgezogen. Man überlegt, wie man den Tod der Familie beibringt, die sich hier gerade auf dem Rasenstück mit Paradiesapfelbaum zum Picknick eingefunden hat.

Schönheit im Schrecklichen
Klanglich hat dieses „Intérieur“, das doch ein Exterieur ist, eine andere Farbe in Reimanns Partitur: ein wässriges Fließen der ausschließlichen Holzbläserbesetzung. Das Schreckliche ist hier einfach schön, wie es das Orchester in Frankfurt intoniert.
Das bei der Todesverkündigung in der Idylle schlafende Kind wird dann im dritten und letzten Teil zu Tintagile, dem kleinen Erben einer bösartigen Königin, die nicht von ihrer Macht lassen will. Er ist in einen schlimmen Märchenalptraum versetzt, der nicht gut ausgehen wird.

Die Großmutter hat ihn auf ihr Schloss bestellt, das von den Pappeln erstickt wird, wie es in Maurice Maeterlincks Textvorlage heißt. Hier glüht es unheimlich in dem sich wie ein Turm nach oben reckenden Wurzelgeflecht im grandiosen Bühnenbild von Fabian Wendling.
Die Schwestern, allen voran die tapfere Ygraine, können den kleinen Tintagile nicht schützen. Von drei unheimlichen Dienerinnen wird er im unheimlichen Schloss entführt – bei Reimann drei Countertenöre, in Frankfurt fabelhaft besetzt mit Iurii Iushkevich, Tobias Hechler und Dmitry Egorov. Ygraine kann zum verzweifelt schreienden Bruder nicht vordringen, der von den Mächten des Unheimlichen erwürgt wird.

Zwischen Bürgertum und Gothic Horror
Die drei stilistisch unterschiedlichen symbolistischen Einakter inszeniert Daniela Löffner als bürgerliches Familienstück, als pastorale Landpartie und als Märchen eines Gothic Horror. Da stehen Alfred Hitchcock und David Lynch Pate.
So treffend different das ist, gelingt der Inszenierung dennoch, „L’Invisible“ als einen großen Atembogen zusammenzubinden. Das alles ist beklemmend existentiell, zugleich ist es aber auch verführerisch dank der magischen Bühnenskulptur von Fabian Wendling. Dieses Naturbild ist tödlich schön.

Große Perfektion im Orchestergraben
Auch musikalisch zeigt die Frankfurter Aufführung mit großer Perfektion die meisterhafte Handschrift des genuinen Musikdramatikers Reimann. Das ist nicht nur alles wunderbar gesungen von einem homogen abgestimmten Ensemble mit seinen Mehrfachrollen, sondern auch mit jener Textverständlichkeit, die der Komponist der wunderbaren Textvorlage Maeterlinck verliehen hat.
Der kleine Victor Böhme in der reinen Sprechpartie des Tintagile ist ungemein berührend, sein Sterben lässt einen sprachlos zurück. Irina Simmes ist in den Frauenpartien der drei Teile fabelhaft, wie sie die Koloraturen der Ygraine als Ausdruck der ungreifbaren Angst singt, ist von virtuoser Eleganz des Schwerelosen.
Titus Engel leitet oder koordiniert nicht einfach die Aufführung, er durchlebt sie mit ingeniöser Hingabe an eine perfekt ausbalancierte Partitur. Schrecken und Schönheit liegen hier eng beieinander, ohne den Tod ist das Leben nicht zu haben. Das ist die große Wahrheit dieses Stückes über die Macht des Todes.
Es ist eine Bilanz, die am Ende von Reimanns Musikleben steht und das macht dieses wahrhaft zeitlose Opernwerk so kostbar. In Frankfurt glüht es wie ein schwarzer Diamant. Es ist großes Musiktheater, das uns unmittelbar betrifft.