SWR-Datenrecherche "Verrentungswelle"

Mehr als eine halbe Million Boomer gehen in BW bald in Rente - Folgen, Probleme, Lösungen

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Oliver Linsenmaier
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SWR Data Lab
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Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente. Wirtschaft und Gesellschaft in BW müssen sich auf die Verrentung der Boomer einstellen. Manche Berufe und Regionen sind besonders betroffen.

In Baden-Württemberg wird in den kommenden fünf Jahren vorraussichtlich jede und jeder zehnte Angestellte in den Ruhestand gehen. Das zeigt eine SWR-Datenrecherche, die auf den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit basiert. Bei insgesamt 4,9 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten werden es 531.000 Arbeitskräfte sein, die dem Arbeitsmarkt mit ihrem Fachwissen und jahrzehntelangen Erfahrungen fehlen werden. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme, welche die Gesellschaft vor immense Herausforderungen stellen werden.

"Wir sind jetzt eigentlich nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf", sagt Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg. "Das wurde Anfang der 1990er-Jahre prognostiziert. Das heißt, wir wissen es alle seit drei Jahrzehnten." Dass dennoch nicht entsprechend reagiert wurde, liegt für Raffelhüschen an den unpopulären Konsequenzen. Denn letztlich hätte man das Renteneintrittsalter auf 70 hochsetzen müssen. Davor hätte sich die Politik gedrückt.

Das war eine absolute Vogel-Strauß-Politik und zwar von allen Parteien. Jeder hat sich davor gescheut, den Leuten zu sagen, dass man länger arbeiten muss.

BW steht im Ländervergleich eher gut da

Baden-Württemberg liegt im Ländervergleich mit 10,8 Prozent auf Platz sechs. Die Hansestadt Hamburg liegt mit 9,3 Prozent an der Spitze. Dahinter folgen Berlin, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Der Anteil der über 60-Jährigen ist in Sachsen-Anhalt (12,6 Prozent) am höchsten. Auch Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen haben einen hohen Ü60-Anteil.

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Besonders betroffene Berufe: Taxifahrer, Lehrer, Bus- und Bahnfahrer

Blickt man auf die Berufe in Baden-Württemberg, werden vor allem Taxifahrer (32,2 Prozent), Berufsschullehrerkräfte (23,6 Prozent) und Lehrer an weiterführenden Schulen (22,6 Prozent) von der Verrentungswelle betroffen sein. Auch bei den Bus-, Straßenbahn- und U-Bahn-Fahrern sowie Lkw-Fahrern wird in den kommenden Jahren etwa jeder fünfte Beschäftigte in den Ruhestand gehen.

In der Pflege drohen personelle Engpässe

Allerdings bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dadurch in den jeweiligen Berufsfeldern Personal fehlen wird. Schließlich verändern sich Berufe, verlieren an Bedeutung oder Arbeiten können von Maschinen übernommen werden. Wo genau Fachkräfte fehlen werden, ist nur bedingt vorhersagbar. Jedoch weist die Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit einige Berufsfelder aus, die wahrscheinlich betroffen sein werden. Ganz oben in diesem Ranking stehen Pflegeberufe, die bereits heute von einem Arbeitskräftemangel betroffen sind. Auch Arzt- und Praxishilfen, Jobs in der Hotellerie und Gastronomie oder aber Steuerberater tauchen hier auf.

So sind Ärzte, die Feuerwehr und die Kinderbetreuung betroffen

In der Pflege ist etwa jeder zehnte Beschäftigte 60 Jahre oder älter (10,8 Prozent). In anderen wichtigen Berufen, wie beispielsweise bei den Ärzten, werden vorraussichtlich knapp 13 Prozent in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen. Bei der Feuerwehr sind es 9,5 Prozent, in der Kinderbetreuung 7,9 Prozent.

Polizei in BW nur noch bedingt von Verrentungswelle betroffen

Etwas anders verhält es sich bei Polizisten in Baden-Württemberg. Laut Innenministerium sind alle Polizisten im Land verbeamtet. Im Oktober 2024 waren es etwa 34.700 Personen. Davon sind rund 28.900 im Vollzugsdienst. Von ihnen sind 904 Beamte 60 Jahre oder älter. Das entspricht gerade einmal gut drei Prozent.

Dass der Anteil der Ü60-Jährigen so gering ist, liegt vor allem an den gesetzlichen Rahmenbedingungen. So gehen Polizeivollzugsbeamte bereits mit Ende 62 in den Ruhestand. Daher seien in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Babyboomer aus ihrem Polizeidienst ausgeschieden, heißt es aus dem Innenministerium.

Innenministeriums spricht von "größter Einstellungsoffensive"

Laut Innenministeriums ist dafür auch "die größte Einstellungsoffensive in der Geschichte der baden-württembergischen Landespolizei" mitverantwortlich. Seit 2016 habe man 12.000 Personen für die Polizei gewinnen können. Seit 2021 würden die Personalzugänge die -abgänge übersteigen. "Trotz der noch anhaltenden Pensionierungswelle" habe man heute 300 Polizistinnen und Polizisten mehr als im Jahr 2016: "Bis 2026 wird sich dieser personelle Zuwachs auf über 1.000 fertig ausgebildete Polizistinnen und Polizisten belaufen."

Viele ältere Polizeibeamte arbeiten in der Verwaltung

Blickt man allerdings auf die Personen, die bei der Polizei in Baden-Württemberg angestellt sind, aber nicht im Vollzugsdienst arbeiten, sieht es etwas anders aus. Von den 5.800 Beamten - sie sind überwiegend in der Verwaltung tätig - sind 1.100 älter als 60 Jahre. Das entspricht 19 Prozent. Knapp jeder Fünfte wird hier vorraussichtlich in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen.

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Bei den Berufen im Handwerk ist der Anteil der Ü60-Jährigen bei den Schweißern (13,5 Prozent), den Maurern (11,7 Prozent) und Metallbauern (11,6 Prozent) am größten. Bei Zimmerern befindet sich dagegen nur jeder zwanzigste Beschäftigte kurz vor der Rente (5,5 Prozent). Der Anteil der Unter-30-Jährigen ist viel höher als in allen anderen Handwerksberufen. Knapp die Hälfte aller Zimmerer ist jünger als 30 Jahre. Auch Bäcker, Dachdecker und Fliesenleger stehen verhältnismäßig gut da. Allerdings werden laut Engpassanalsyse gerade in diesen Handwerksberufen dennoch viele Fachkräfte gebraucht.

Regionale Unterschiede bei jeweiligen Berufen

In Baden-Württemberg gibt es regional einige Unterschiede. Die meisten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die älter als 60 Jahre sind, leben in Baden-Baden (13,3 Prozent), im Neckar-Odenwald-Kreis (12,5 Prozent) und im Breisgau-Hochschwarzwald (12,2 %). Die wenigsten Ü60-Jährigen haben die Kreise Heilbronn (9,4 Prozent), Stuttgart (9,5 Prozent) und Biberach (9,9 Prozent).

In den Kreisen Waldshut, Sigmaringen und Rottweil könnten Ärzte fehlen

Auch bei den jeweiligen Berufsgruppen gibt es regional deutliche Unterschiede. So könnten in den Kreisen Waldshut, Sigmaringen, Rottweil und Freudenstadt perspektivisch Ärzte fehlen. Hier ist ein Viertel der Beschäftigten älter als 60 Jahre. Noch größer ist der Ü-60-Anteil in manchen Kreisen in Baden-Württemberg bei den angestellten Lehrkräften. In Pforzheim, Ulm, Schwäbisch Hall und Reutlingen machen sie fast ein Drittel aus.

In der Altenpflege gibt es die meisten Ü-60-Beschäftigten im Kreis Waldshut, in den Städten Mannheim und Rastatt sowie im Bodenseekreis. Prozentual liegen sie zwischen 14 und 15,5 Prozent. Am besten steht Heidelberg mit 8,1 Prozent da, gefolgt von Esslingen, Sigmaringen und Tuttlingen.

Perspektive: Immer weniger junge Beschäftigte

Hinzu kommt, dass der Anteil der Beschäftigten über 60 Jahre grundsätzlich weiter steigen wird. Waren es im Jahr 2013 "nur" knapp 6 Prozent, sind es nun schon 10,8 Prozent. Und die nächstjüngere Gruppe der 50 bis 59-Jährigen macht jetzt bereits 24,4 Prozent aus. Perspektivisch werden immer weniger junge Beschäftige nachkommen. Die Gruppe der Älteren wird weiter wachsen.

Wirtschaftsministerium BW: 80 Millionen Euro für Fachkräftesicherung

Das baden-württembergische Wirtschaftsministerium erklärt auf Anfrage, dass man bereits vor zehn Jahren die Fachkräfteallianz Baden-Württemberg initiiert und vielfältige Maßnahmen ergriffen habe. So seien im Jahr 2024 mehr als 80 Millionen Euro für die Fachkräftesicherung eingesetzt worden. Auch habe die Landesregierung eine ressortübergreifende Fachkräfteinitiative beschlossen. Die geplante Landesagentur für die Zuwanderung von Fachkräften sei - ebenso wie eine Kooperationsvereinbarung mit dem indischen Bundesstaat Maharashtra - hervorzuheben, so eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. Allerdings hatte die Wirtschaft im Land unlängst kritisiert, dass die vor eineinhalb Jahren angekündigte Landesagentur immer noch nicht aufgebaut sei.

Zudem heißt es aus dem Wirtschaftsministerium, dass "für die Fachkräftesicherung zuerst und vor allem die Unternehmen gefordert" seien. Auch müssten "die maßgeblichen Weichen in der Steuer- und Sozialpolitik auf Bundesebene gestellt werden". Wichtig sei unter anderem die "Arbeitsmarktintegration der Älteren". So sei die Beschäftigungsquote der 60- bis unter 67-Jährigen im Land zwischen 2013 und 2023 um 16,3 Prozentpunkte auf 44,1 Prozent (Bundesdurchschnitt 41,3 Prozent) gestiegen. "Baden-Württemberg konnte damit die höchste Beschäftigungsquote der Generation 60plus unter den Bundesländern vorweisen", so die Sprecherin.

Demografie-Experte: Rente mit 70 würde helfen

Doch dürfte das nicht reichen. Daher stellt sich mehr denn je die Frage, ob und wie man noch gegensteuern kann. "Man kann die Uhr tatsächlich noch ein bisschen zurückschrauben, aber das erfordert harte Maßnahmen", sagt Demografie-Experte Raffelhüschen. So müsse das Renteneintrittsalter sehr schnell um drei bis fünf Monate pro Jahrgang nach hinten geschoben werden. Am Ende würde dann die Rente mit 70 stehen.

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Außerdem müsse versucht werden, die Teilzeitarbeit zu reduzieren. Dabei sieht Raffelhüschen gerade bei Frauen ein großes Potential, da viele von ihnen nur in Teilzeit arbeiten würden. Auch müsse man versuchen, mehr Arbeitslose in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen. Des Weiteren könne unter gewissen Voraussetzungen der Zuzug von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland eine Rolle, so der Experte.

"Die soziale Marktwirtschaft, die liberale Marktwirtschaft, das war unser Leitbild, und das hat uns reich gemacht. Wenn wir das wiederbeleben könnten, dann hätten wir eine Menge gewonnen", sagt Raffelhüschen. Europa werde international perspektivisch an Bedeutung verlieren. Deutschland und Baden-Württemberg würden aber auch in Zukunft gut dastehen - allerdings müsse dafür zeitnah gehandelt werden.

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