Das HI-Virus: vermutlich schon 100 Jahre alt
Der erste Mensch mit HIV könnte vor über 100 Jahren ein Jäger gewesen sein. Seine Beute trug ein Immundefizienz-Virus in sich und der Jäger infizierte sich, so die Annahme, über eine Schnittwunde.
Das vom Tier stammende Virus entwickelte sich dann zum humanen Immundefizienz-Virus HIV. Der verletzte Jäger als erster menschlicher Wirt – diese sogenannte Cut-Hunter-Hypothese halten Forscher für sehr wahrscheinlich.
Wenn Krankheiten von Tieren auf Menschen übertragen werden, sprechen Wissenschaftler von einem Spillover. Ein Spillover ist nicht selten. Robert Jütte, ehemaliger Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, erinnert an die Vogelgrippe. Daran könne man sehen: Die Übertragung gehe "ratzfatz".
Ein Vorgänger-Virus bei Schimpansen gefunden
Der Spillover von HIV auf den Menschen erfolgte nach heutigen Annahmen mindestens zwölf Mal. Jede der heute bekannten Gruppen des HI-Virus geht auf eine solche Tier-zu-Mensch-Übertragung zurück. Für 90 Prozent aller Infektionen ist der Erreger HIV-1, Gruppe M, verantwortlich. Beatrice Hahn von der Perelman School of Medicine in Pennsylvania und ihr Team haben ihn zurückverfolgt – und fanden den wahrscheinlichen Vorgänger bei einer Schimpansenpopulation in Kamerun.
Die Forschergruppe bestimmte außerdem den Zeitpunkt des Spillovers. Dafür analysierte sie die genetischen Unterschiede in heutigen Viren, sagt Beatrice Hahn. "Wir können aufgrund der genetischen Diversität der heutigen HIV-1-Stränge zurückrechnen, wann der letzte gemeinsame Vorgänger existierte. Und das war 1910 plus/minus 20 Jahre." Das Schimpansen-Virus wiederum ist eine Mischung aus Viren, die bei Rotkopfmangaben und Meerkatzen auftreten. Schimpansen jagen diese Affen.
Erste nachgewiesene HIV-Infektionen in der Demokratischen Republik Kongo
Vom Südosten Kameruns aus machte sich HIV auf den Weg. Zunächst langsam, nicht explosionsartig, sondern von einer Person zur nächsten. Richtung Süden, erst den Sangha-Fluss, dann den Kongo entlang, bis es schließlich nach Léopoldville kam, das heutige Kinshasa, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.
Robert Jütte schildert, wie Forscher den Ausbreitungsweg rekonstruierten. Im Mittelpunkt stehen zwei in Paraffin konservierte Gewebeproben: ZR59 und DRC60. Beide Proben stammen aus der Region Kinshasa aus den Jahren 1959 und 1960, und beide Proben sind HIV-positiv. Sie stellen damit die ältesten nachgewiesenen HIV-Infektionen dar. Eine genetische Analyse der Proben im Jahr 2008 ergab, dass das Virus schon 40 Jahre oder länger in Léopoldville kursierte, also mindestens seit den 1920er-Jahren.
Von Zentralafrika aus in die Welt
Zwischen 1920 und 1960 explodierte die Bevölkerung von Léopoldville geradezu, von ungefähr 20.000 auf mehr als 400.000 Menschen. Das Virus setzte sich hier fest. Zu den Hauptübertragungswegen gehörten damals wie heute ungeschützte intime Kontakte und das Wiederverwenden von Spritzen und Nadeln, ohne sie zu sterilisieren.
Außerhalb Afrikas setzte sich das Virus, laut Robert Jütte, erst in den 1960er-Jahren fest. Es gelangte zunächst nach Haiti. Und weil viele Einwohner Haitis im Ausland arbeiteten, von dort aus in die westliche Welt. Drei frühe dokumentierte AIDS-Fälle mit Todesfolge sind die eines Teenagers aus Missouri, eines Norwegers, der in jungen Jahren zur See fuhr, und einer in Zaire arbeitenden Ärztin. Da die behandelnden Ärzte damals so perplex von diesen Fällen waren, hoben sie Proben der Obduktionen auf. So konnte später nachgewiesen werden, dass alle drei mit HIV infiziert waren.
AIDS wurde als homosexualitäts-bedingt wahrgenommen
Ein weiterer bekannter Fall aus den 1970er-Jahren ist der kanadische Flugbegleiter Gaëtan Dugas, der irrtümlicherweise manchmal als Patient Zero bezeichnet wird. In dieser Zeit schloss sich an die Bürgerrechtsbewegung in den USA die „Gay Migration“ an – die Migration der Schwulen. Dugas war homosexuell und soll nach eigener Aussage mehr als 2.500 Sexualpartner gehabt haben. Die schnelle Ausbreitung des Virus in der Schwulen-Szene führte letzten Endes zur Entdeckung der Krankheit. Deshalb wird sie zunächst als gay-related immune deficiency, also homosexualitäts-bedingte Immunschwäche, oder kurz GRID bezeichnet.
Die heutige Bezeichnung AIDS dagegen steht für Aquired Immune Deficiency Syndrome: Das erworbene Immunschwäche-Syndrom. Seit den 1980er-Jahren wird an einem Impfstoff geforscht – bisher ohne Erfolg. Denn es mutiert sehr schnell. So entstehen im Körper eines HIV-positiven Menschen jeden Tag mehr unterschiedliche Virus-Varianten als Grippe-Varianten weltweit pro Jahr.
Fortlaufende Suche nach Therapie
Immerhin konnten wirksame medikamentöse Therapien entwickelt werden – HIV bedeutet heute kein Todesurteil mehr. Und auch wenn bisher drei HIV-Patienten geheilt werden konnten – zuletzt sorgte im Februar 2023 die Heilung des "Düsseldorf-Patienten" für große Aufmerksamkeit – greift die in diesen Fällen angewandte Stammzellentherapie nur in besonderen Fällen, nämlich wenn der Patient auch an Leukämie erkrankt ist. Denn die Therapie ist mit sehr großen Risiken verbunden, weshalb sie für HIV-Patienten, die nicht gleichzeitig auch an Blutkrebs leiden, nicht infrage kommt.
Bei HIV-Patienten kann aber mit der richtigen Therapie die Viruslast im Körper unter der Nachweisgrenze gehalten werden.
Impfstoff, Knochenmarktransplantation oder ein ethisch umstrittener Einsatz der Genschere für eine HIV-Immunität – es wird weitergeforscht auf der Suche nach einem Heilmittel. Das ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn je länger der Kampf gegen HIV dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus Resistenzen gegen die bereits vorhandenen Therapien entwickelt.
SWR 2020 / 2022