Buch-Tipp

Neue Biografie über Bruckner: Der Anarch in der Musik

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Autor/in
Christoph Vratz
Christoph Vratz
Onlinefassung
Jennifer Silaghiu

Am 4. September jährt sich der Geburtstag des Komponisten Anton Bruckner zum 200. Mal. Bis heute gilt er als Sonderling – musikalisch und menschlich. Doch was ist dran, am Bild des gottesfürchtigen Mannes, der schon zu Lebzeiten oft Mitleid erregt hat, weil er – angeblich – so unsicher und unbeholfen wirkte, und dessen Musik heute in allen großen Konzertsälen der Welt heimisch ist? Rüdiger Görner hat eine neue Biographie über Anton Bruckner geschrieben.

Unser Bild von Anton Bruckner: Ein Eigenbrötler

Er hat es uns nicht einfach gemacht, und womöglich war er selbst auch nicht einfach: Anton Bruckner. Welches Bild haben wir von Anton Bruckner?

Das fragt Literatur- und Kulturwissenschaftler Rüdiger Görner gleich zu Beginn seiner Biografie über Anton Bruckner und findet, er stehe da als ein Anekdotenlieferant, „tapsig bis tollpatschig, […] die Hosen zu kurz, der Gehrock sichtbar ausgebeult, abgestoßen an den Ärmeln und am Revers“.

Gemeinhin erscheint uns Bruckner wie die Karikatur eines schrulligen Menschen und Eigenbrötlers.

Anton Bruckner in seiner Wohnung in der Heßgasse, Wien.
Anton Bruckner in seiner Wiener Wohnung

Überwindung der Einsamkeit durch Kunst

Wie lassen sich aber Vorstellung und Wahrheit bei Bruckner zusammenbringen? Görner nähert sich dem Komponisten mit einer fragenden Haltung und kommt unter anderem zu dem Schluss:

Vermeintliche Lebensleere traf in ihm auf unbestreitbare Kunstfülle.

Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihrer Überwindung durch Kunst sei eine Grundspannung in seinem Leben gewesen.

Fragende und chronologische Erzählweise

Die fragende Haltung begleitet uns bei der Lektüre dieses Buches immer wieder. Görner stellt auch viele Fragen, die er teilweise nicht beantworten kann oder will, die aber helfen können, uns Bruckner möglichst authentisch und lebensnah vorzustellen.

Dabei erzählt er Bruckners Leben chronologisch. Manchmal greift er aber mit guten Gründen vor, „denn Phasen von Bruckners Leben greifen ineinander wie manche Motive in den überdimensionalen Sätzen seiner Symphonien“.

Sprachgewandte und plastische Darstellung

Dabei zeichnet Rüdiger Görner das Leben Bruckners sprachgewandt – teilweise sprachgewaltig – nach. Zwar werden die Quellen am Ende aufgelistet, doch nicht immer wird klar, was dadurch abgesichert ist, und was Görners eigener plastischer Darstellung zu verdanken ist:

„Barfuß wird er gegangen sein, der kleine Anton, wie damals üblich, bis zum ersten Schneefall, die Joppe, von mütterlicher Hand gestrickt, dazu ein kleiner Filzhut – ohne Feder. Er hörte die Natur mehr, als dass er sie sah […] Etwas Trotziges geht von diesem Jungen aus.“

Es sind Passagen wie diese, die unsere Neugierde als Leser, als Leserin hochhalten. Wenn Bruckner in Linz erstmals mit der Musik Richard Wagners in Berührung kommt, gestaltet Görner das sehr plastisch und ausführlich. Auch weil Bruckner hier – nach seinen Jahren theoretischer Studien – nun näher an der Praxis ist.  

Kleine Ungenauigkeiten

Den Literaturwissenschaftler in sich kann Rüdiger Görner nicht verbergen. Das kommt dem Buch dank vieler Querverweise zugute. Wenn er sich nun erstmals ausgiebig einem Musiker zuwendet, schwingt vor allem die Begeisterung für den Biografierten mit, vereinzelt auf Kosten von Ungenauigkeiten wie bei Robert Schumanns „Carneval“ (statt „Carnaval“).

Auch dass Bruckner in London vor 70.000 Zuhörern die Orgel gespielt hat, ist zwar oft zitiert worden, entspricht aber kaum den Tatsachen und hätte daher kritisch hinterfragt werden können. Umgekehrt scheut sich Görner nicht, persönliches Hörempfinden mit essayartigen Betrachtungen zu verbinden.

Gegenentwurf zu Diergartens Bruckner-Biografie

Vor diesem Hintergrund wirkt Gröners Buch (teilweise) wie ein Gegenentwurf zu der ebenfalls noch neuen Bruckner-Biografie von Felix Diergarten.

Während Felix Diergarten eher knapp und geradezu nüchtern entlang ausgewerteter Quellen berichtet, erzählt Görner in weit umfangreicherem, aber auch freierem Maße: suchend, fragend, ausmalend.

Darum ist gerade diese Biografie auch für alle geeignet, die Bruckners Aura und den Geheimnissen seiner Musik (neu) entdecken möchten. 

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