Kommentar

Zukunft der Konzerthäuser: Braucht es innovative Konzertformate oder nerven die nur?

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Albrecht Selge
Albrecht Selge

Der Silbersee im Konzertsaal bereitet Sorgen um den Fortbestand von Konzerthäusern und Orchestern. Eine Lösung sollen neue innovative Konzertformate sein. Wenn aber eine Topfpflanze prozessionsartig durch den Konzertsaal getragen wird, oder Musiker*innen mit bunten Tüchern wedeln, spürt Albrecht Selge eher Fremdscham. Muss die „klassische Konzertform“ weg oder nerven innovative Konzerte nur? Ein Kommentar.

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Innovative Formate gab es schon lange, bevor das erfunden wurde, was wir heutzutage „Konzert“ nennen: Der Venezianer Giovanni Gabrieli etwa ließ den Klang des Chors von mehreren Seiten aufs Publikum einströmen. Händel komponierte Stücke für eine Bootsmannschaft, die „Wassermusik“. Und Joseph Haydn ließ auf Schloss Esterhazy seine Musiker in einem Adagio einen nach dem anderen von der Bühne abgehen. Die Geschichte der „Abschiedssinfonie“ ist zwar nicht verbürgt, aber einfach zu schön, um unwahr zu sein. 

Das gängige Konzertformat ist die „Unterhose Karlheinz“ – Feinripp mit Eingriff

Das gutbürgerliche Konzert im heute landläufigen Sinn entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damals brandneu, heute der Inbegriff des nicht-innovativen Konzertformats: die Abfolge Ouvertüre – Solokonzert – Symphonie. Die ist unter den Konzertformaten quasi die „Unterhose Karlheinz“. So hieß das jahrzehntelang meistverkaufte Schlüppi-Modell in Deutschland: Feinripp mit Eingriff.

Klassiker oder olle Kamelle, darüber gehen auch beim Standardkonzert die Meinungen auseinander. Dass gerade junge Musikerinnen und Musiker nicht, wie ihre Großeltern es taten, klaglos in die Unterhose Karlheinz schlüpfen wollen, ist nachvollziehbar. „Innovative Konzertformate“ haben Konjunktur. „Gallische Dörfer im klassischen Konzertleben“ nennt der junge Musikwissenschaftler Stefan Kleinberger diesen Trend. 

Für manchen Konzertgänger im Jahr 2023 ist der Begriff „innovatives Konzertformat“ Verheißung, für manchen Drohung. 

Peinliche Blüten unter den innovativen Formaten 

Ja, auch ich habe schon Schlimmes erlebt: Kürzlich trugen Musiker in einer Art Prozession eine Topfpflanze quer durch den Konzertsaal, um für den Erhalt der Schöpfung zu plädieren. Wohlfeile Kindersätze gegen den Klimawandel schnurrten aus Lautsprechern. Und wenn kompetente Musiker abseits ihrer Qualifikation Schauspieler nachahmen müssen oder mit Tüchern wackeln wie im Mittelstufe-Kurs Darstellendes Spiel, dann löst das bei mir peinigende Fremdscham aus. 

Wenn Musiker sich auf neues Terrain begeben, müssen sie auch dort gewissen Ansprüchen genügen: Mindeststandards theatralischer oder literarischer Art. Das würden wir umgekehrt auch von musizierenden Literaten erwarten!

Aber misslungene Beispiele sind kein Argument gegen den Versuch an sich. Das klassische Konzertformat wird ja nicht abgeschafft, wenn man ab und zu versucht, es aufzubrechen. Eine Oper von Henze in einem Flughafengebäude. Kammermusik im Ex-Krematorium. Oder auch Bach und Breakdance, warum nicht? Das alles ist halsbrecherisch, tollkühn. Und: Es erfordert alles enorme Kompetenz. 

Auch Scheitern kann spannend sein

Entscheidend ist der Zusammenhang. Die Stringenz: dass es sich im Vollzug als passend erweist, was da überraschend zusammengefügt wird. Seien es Musik und ein unbekannter Ort, seien es ungewohnte Aufstellungen und Bewegungen, sei es die Konfrontation von völligen verschiedenen Musiken, auf die man vorher niemals gekommen wäre.

Das kann wahnsinnig spannend sein! Und es kann natürlich auch mal schiefgehen. Wenn man sehr viel gewollt und gewagt hat: Dann macht das nichts, auch Scheitern kann spannend sein.

Nur wenn das Publikum getäuscht werden soll durch Beliebigkeit und Phrasen, dann fliegt das eben schnell auf. Schneller als bei einem uninspirierten Karlheinz-Konzert, das wir schon beim Hinausgehen vergessen haben. An „innovative Konzertformate“ hingegen erinnern wir uns selbst dann noch, wenn sie uns auf die Palme gebracht haben.

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