Wer an Tenöre des italienischen Fachs denkt, dem fallen sofort Luciano Pavarotti, Plácido Domingo oder José Carreras ein. Dann vielleicht noch Franco Corelli, Mario de Monaco oder Giuseppe di Stefano. Aber Carlo Bergonzi? Gerade ihn schätzen Kenner als den vielleicht größten italienischen Tenor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren, am 13. Juli 1924, ist Bergonzi auf die Welt gekommen.
Carlo Bergonzi – einer der Verdi-Tenöre schlechthin
Carlo Bergonzi – das ist der vielleicht eleganteste, klangschönste, mit Sicherheit aber der kultivierteste italienische Tenor im 20. Jahrhundert. Die gern konstatierte „Krise der Gesangskunst“, an ihm ist sie vorbeigegangen.
Für Viele ist er einer der Verdi-Tenöre schlechthin. Der Komponist ist für den Sänger schon aufgrund seines Geburtsortes Programm. Vor 100 Jahren kommt Bergonzi am 13. Juli in Vidalenzo auf die Welt. Es ist ein Nachbarort von Busseto, in direkter Nähe zu Verdis Landgut Sant’Agata.
Fehlstart als Bariton
Das Tenorfach steht aber gar nicht am Anfang seiner Karriere. Ausgebildet wird der stimmlich Begabte als Bariton. Die Lehrjahre werden brüsk unterbrochen, als Bergonzi wegen Widerstands gegen die Faschisten 1943 in Mantua verhaftet und nach Deutschland deportiert wird.
Nach dem Krieg beginnt eine bescheidene Karriere als Bariton. Niemand macht den Sänger darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt. Er selbst kommt dahinter. Das hohe F, für einen Bariton normalerweise kein Problem, bereitet ihm Schwierigkeiten. Es markiert genau den stimmlichen Übergang in die Tenorlage, dem die hohen Töne folgen, die Bergonzi dann mühelos bewältigt.
Schwieriger Start als Tenor
Er schult um und debütiert 1951 in der Titelpartie von Umberto Giordanos „Andrea Chenier“ in Bari. Die Tenorkarriere ist für Bergonzi aber nicht einfach. In jener Zeit dominieren Sänger wie Giuseppe di Stefano oder Mario del Monaco, später kommt Franco Corelli hinzu.
Es sind allerdings Sänger, die das Fach gnadenlos einebnen. Durch Lautstärke und expressiven Druck, die aus der italienischen Oper des Verismo um 1900 herrühren, hören sich so unterschiedliche Rollen wie Verdis Alfredo in „La Traviata“ oder Mascagnis Turridu in „Cavalleria rusticana“ nahezu gleich an.
Das gerade bei Verdi so dringend benötigte „Messa di voce“, der an- und abschwellende Ton, das bekommen sie nicht hin. Bergonzi schon. Und auch den Übergang, die „Passagio“ zwischen Brust- und Kopfstimme realisiert niemand so mühelos wie er.
In New York wird Bergonzi zum Star
Erstaunlicherweise nutzen ihm seine herausragenden Qualitäten in der Heimat wenig. 1953 debütiert er ohne großes Aufsehen im italienischen Opernolymp an der Mailänder Scala.
1963, zehn Jahre später, erfolgt am gleichen Ort der Durchbruch in Verdis „Aida“, in der er als einer der wenigen Tenöre das von Verdi geforderte Pianissimo des hohen B in Radames Eingangsarie zu realisieren weiß. Genützt hat es ihm nicht. Denn die Scala ist nicht weiter groß an ihm interessiert.
Ganz anders dagegen die Metropolitan Opera in New York. Dort wird er ab 1953 in 27 Spielzeiten mit 249 Aufführungen nicht nur zu einem führenden Tenor, sondern auch zu dem herausragenden Verdi-Sänger im 20. Jahrhundert schlechthin.
Lyrisch sensibel an der Seite von Maria Callas
An der Seite von Maria Callas realisiert er 1964 in der letzten ihrer Einspielungen von Puccinis „Tosca“ einen Cavaradossi, der alles andere als der heroische Schreihals der Folterszene ist, sondern ein lyrisch sensibles Malergenie, das sich ganz in die erotische Farbgebung für ein Gemälde der Maria Magdalena einfühlt.
Ohnehin verwirklicht Bergonzi in seinen Puccini-Rollen und -Aufnahmen eher das Erbe Verdis als das der zeitgleichen Verismo-Schroffheiten und -Brutalitäten oder ihre sentimentalen Übertreibungen. Er ist damit 1965 die Idealbesetzung in Herbert von Karajans Mailänder Aufnahme des Doppelpacks mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Leoncavallos „Pagliacci“.
Mit dem Dirigenten hat Bergonzi zuvor schon Verdis „Aida“ in Wien aufgenommen, jetzt zeigt er ganz im Sinne dieses bis heute unterschätzen Sängerbegleiters, dass sich diese Opern des Verismo aus dem Geist des Belcanto realisieren lassen.
Weinen aus dem Inneren der Musik
In Canios Klagemonolog der „Pagliacci“ wird meist hemmungslos geschluchzt, um den Bühnenboden in einem Tränensee emotionaler Übertreibung zu ertränken. Das Weinen Bergonzis hingegen ist kein äußerlicher Akt, sondern kommt aus dem Inneren der Musik. Und dass das möglich ist, treibt die Tränen beim Hören hervor.
Jammerndes Elend lässt erst das Orchesternachspiel hören. Davor ist es Weinen durch seelische Schönheit. Das bewundert der Sängerpapst Jürgen Kesting an Bergonzi und zitiert einen großen Aufklärer: „Die Tränen des Schauspielers, um an das Wort von Diderot zu erinnern, rinnen aus dem Verstande.“
Bereits Mitte der 1960er Jahre eröffnet Bergonzi in Verdis Wohnort Busseto ein Hotel. Er nennt es nach einer frühen Verdi-Oper „I due Foscari“ und betreibt es auch nach dem Ende seiner Bühnenkarriere. Am 25. Juli 2014 stirbt er mit 90 Jahren.
Eine alterslose Stimme
Bergonzis Stimme hat selbst in einem gewissen Alter nichts von ihrer Jugendlichkeit eingebüßt. 1989 tritt er mit 65 Jahren im Münchner Herkulessaal auf und beeindruckt das Publikum mit einer zeitlosen Stimme. Mit 53 nimmt er 1977 in New York eine Platte mit italienischen Liedern auf, unter ihnen Rossinis „La Danza“.
Rossinis Opernpartien mit ihren artifiziellen Verzierungen ist Bergonzi erstaunlicherweise ausgewichen, hier realisiert er aber eine tänzerische Vokaldynamik, die ihn alterslos erscheinen lässt. Bergonzi hat eine Stimme, deren Aufnahmen für die Ewigkeit und die einsame Insel taugen.
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