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Die Pianistin Anna Gourari spielt Schnittke und Hindemith: „Nicht zum Nebenbei-Hören“

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Christoph Vratz
Christoph Vratz

„Meine Aufgabe sehe ich nicht darin, Musik auszudenken, sondern zu hören. Es geht darum, mein Ohr nicht zu stören beim Hören dessen, was außerhalb von mir passiert“, sagt der Komponist Alfred Schnittke. Diese Aussage gilt auch für sein Konzert für Klavier und Streicher von 1979. Anna Gourari hat das Werk aufgenommen und – an der Seite des Orchestra della Svizzera Italiana und Markus Poschner – mit Musik von Paul Hindemith verknüpft.

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Türglocke als Eingangsmotiv

Das Eingangsmotiv hat Alfred Schnittke der Türglocke seiner damaligen Moskauer Wohnung abgelauscht – und es zu einem der zentralen Intervalle in seinem Konzert für Klavier und Streicher gemacht. 

Anna Gourari spielt das zart und wie eine offene, im Ungefähren verhallende Frage. Auch die düsteren Basstöne wirken anfangs verhalten, bevor sie schließlich einen bedrohlichen Charakter annehmen. 

Der Komponist Alfred Schnittke in einer Schwarz-weiß-Aufnahme am Klavier sitzend, beim komponieren.
Das Eingangsmotiv seines Konzerts für Klavier und Streicher hat Alfred Schnittke der Türglocke seiner damaligen Moskauer Wohnung abgelauscht.

Träumerisches Solo, ungemein direktes Orchester

Schnittkes Konzert besteht aus nur einem Satz, aber aus acht aufeinander folgenden Abschnitten. Die lange Solo-Passage zu Beginn deutet Anna Gourari wie eine Fantasie: verträumt, sich treiben lassend und sensibel der Einsamkeit dieser Musik nachlauschend.

Wenn dann das Orchester einsetzt, weitet sich der Charakter und macht alle Gedanken, die an einen harmlosen Türglocken-Ton erinnern, vergessen.

Das Orchestra della Svizzera Italiana spielt unter Markus Poschner ungemein direkt, als solle nichts beschönigt werden. Dank einer großen Transparenz hat diese Passage etwas Fesselndes, Zupackendes und zugleich Erdrückendes.

SWR2 Zur Person Der Dirigent Markus Poschner

30 Minuten Bedenkzeit - mehr brauchte Markus Poschner nicht, bevor er im vergangenen Jahr kurzfristig ein Einspringen für die Bayreuther Eröffnungspremiere zusagte. Presse und Publikum feierten sein Dirigat von "Tristan und Isolde" so stürmisch, dass er auch dieses Jahr wieder am Pult des Grünen Hügels stehen wird.

SWR2 Zur Person SWR2

Ideale Wahl der Tempi

Was mich an dieser Aufnahme überzeugt, ist die Wahl der gewählten Tempi. Es gibt Einspielungen, bei denen dieses Konzert weniger als 20 Minuten dauert, oder aber rund 26 Minuten – eine enorme Spannweite. Anna Gourari und das Orchester der italienischen Schweiz bewegen sich genau in der Mitte – aber sie liefern kein Mittelmaß.

Der Ausdruck wird in unterschiedlichste Richtungen verdichtet, aber ohne Extreme.

Vielmehr zeugt ihre Mitte von einer guten Balance. Der Ausdruck wird in unterschiedlichste Richtungen verdichtet, aber ohne Extreme. Das bekommt dieser Musik sehr gut, auch bei den Übergängen.

„Die vier Temperamente“: Ein Ballett ohne Handlung

Knapp vier Jahrzehnte vor Schnittke hat auch Paul Hindemith ein Konzert für Klavier und Streichorchester komponiert: „Die vier Temperamente“ von 1940, ein Variationswerk, das als Ballettmusik konzipiert war – für ein Ballett ohne Handlung.

Dank der ausgezeichneten Aufnahmequalität sind die einzelnen Stimmen des Streicherapparats gut erkennbar. Auch den von Hindemith vorgegebenen Gestus „Moderato“ fangen Poschner und sein Orchester zu Beginn genau ein.

Ausschnitt aus den „Vier Temperamenten“ auf YouTube

Anna Gourari beweist ihre pianistischen Qualitäten

Anna Gourari schlüpft in den folgenden vier Variationen in die unterschiedlichsten Rollen: grübelnd, aufbrausend, keck, oder auch schwermütig tänzelnd.

Hindemiths Musik wirkt geradezu neoklassisch.

Gourari beweist ihre pianistischen Qualitäten mal mit einem perlenden Anschlag, mal mit einer wechselnd prägnanten und flexiblen Rhythmik, vor allem aber gibt sie sich zurückhaltend beim Pedalgebrauch. So wirkt Hindemiths Musik geradezu neoklassisch. 

In der Mitte dieses Albums steht Hindemiths Sinfonie „Mathis der Maler“. Markus Poschner lotet einerseits die Zonen meditativer Ruhe aus, andererseits beweist er eine gewisse Risikobereitschaft in den dramatischen Sequenzen.  

Ein konstrastreiches Album

Markus Poschner, das Orchestra della Svizzera Italiana und Anna Gourari haben ein ungewöhnlich zusammengestelltes, kontrastreiches Album vorgelegt. Es ist sicher keine Aufnahme fürs Nebenbei-Hören, dafür eine mit vielen Details und wohl überlegten Spannungsbögen. 

Ein ungewöhnlich zusammengestelltes, kontrastreiches Album.

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