Siegfried Unseld war der bedeutendste deutsche Verleger des 20. Jahrhunderts. Den kleinen Suhrkamp Verlag verwandelte er ab 1959 in ein florierendes Unternehmen - und in ein geistiges Zentrum seiner Epoche. Zum hundertsten Geburtstag des großen Verlegers bieten mehrere Neuerscheinungen Gelegenheit, das Erfolgsgeheimnis Unselds zu verstehen.
Siegfried Unseld war ein mächtiger Mann. Wenn er den Raum betrat, dann war es voll. Der Schriftsteller Rainald Goetz erinnert sich an die erste Begegnung mit seinem Verleger, der ihm mit schwingenden Armen im Seemannsgang entgegengekommen sei. Dabei habe er sich kurz mit der Linken zwischen die Beine gegriffen, um zu heben und zu lockern was dort hing. Goetz war hingerissen von dieser „fein abgezirkelten Unkultiviertheit“:
Rainald Goetz‘ Unseld-Würdigung ist zu finden in der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Ideengeschichte“, die – pünktlich zum hundertsten Geburtstag – dem „Unternehmen Unseld“ gewidmet ist. Goetz zeigt damit schlaglichtartig die Spannweite dieses Mannes, der im Suhrkamp-Verlag zwischen den Portalfiguren Hermann Hesse und Bertolt Brecht alles unterbrachte, was Rang und Namen hatte.
Max Frisch, Martin Walser, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger machte er zu seinen engsten Beratern. Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und später Peter Sloterdijk prägten mit ihren Schriften das Land, in dem es ohne die edition suhrkamp kein 1968 gegeben hätte.
Patriarch mit Armbanduhr
Dass Unseld ein Patriarch alter Schule und der Suhrkamp-Verlag eine Männerdomäne war, arbeitet Mara Delius in ihrem Beitrag für das Ideengeschichtsheft heraus. Das ist so wahr wie naheliegend.
Aufschlussreich sind daneben Texte von Niklas Maak über die Unseld-Villa in Frankfurt am Main, von Detlev Schöttker über die edition suhrkamp und ihre Einbände in Regenbogenfarben, das Gespräch mit dem ehemaligen Hanser-Verleger und Unseld-Bewunderer Michael Krüger oder kleine Beobachtungen von Durs Grünbein, dem es vor allem Unselds imposante Armbanduhr angetan hat:
Die Bedeutung Unselds für die deutsche Nachkriegsgeschichte ist gar nicht hoch genug anzusetzen. Unseld wurde zum geistigen Patron einer ganzen Epoche und war zugleich ein umtriebiger Geschäftsmann. Linke schmähten ihn als Kapitalisten, der aus Büchern mit kapitalismuskritischer Theorie Rendite erwirtschafte. Doch für Unseld waren geistiger Einfluss und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze.
Mit dem Tod Peter Suhrkamps 1959 zum Verlagsleiter aufgestiegen, verwandelte er den kleinen Suhrkamp-Verlag zielstrebig ein florierendes mittelständisches Unternehmen, dessen Umsatz 1990 an der hundert Millionen-Marge kratzte.
Dabei verstand sich der Verleger immer auch als Förderer und finanzieller Rückhalt seiner Autoren, die er, wenn es sein musste, auch ein Leben lang unterstütze – so wie Wolfgang Koeppen mit seiner legendären Schreibblockade, wohl wissend, dass dessen nächster Roman niemals fertig und vielleicht noch nicht einmal angefangen werden würde.
Briefband zeigt Siegfried Unselds Erfolgsgeheimnis
Unselds Erfolg beruhte auf seiner Leidenschaft für die Literatur. Seine Arbeit empfand er als Lebensglück, sechzehn Stunden am Tag machten ihm nichts aus.
… schrieb er im Februar 1966 an den „lieben Max Frisch“, nachdem sein Schweizer Star-Autor ihm harsch die Meinung gegeigt und ein zunehmendes „Primat des Kommerziellen“ beklagt hatte. Unseld konnte jedoch für sich in Anspruch nehmen, nicht bloß einzelne Bücher, sondern ganze Werke zu verlegen. Frischs Vorwurf setzte er sein verlegerisches Credo entgegen:
Unselds Antwort an Frisch ist einer von hundert Briefen, die die beiden Herausgeber Ulrike Anders und Jan Bürger in der Bibliothek Suhrkamp vorlegen. Die „Hundert Briefe“ sind ein verschwindend kleiner Prozentsatz des Gesamtkonvoluts, das angeblich mehr als 50.000 Exponate aus mehr als einem halben Jahrhundert umfasst.
Die kleine Auswahl bildet Unselds Lebenslauf vom Verlags-Lehrling in Ulm 1947 bis zum Tod des Patriarchen im Jahr 2002 ab, zeichnet ein intellektuelles Panorama und deutet die Verlagsgeschichte an. Als literarisches Großepos sind Unselds Briefe noch zu entdecken, auch wenn die Korrespondenzen mit Uwe Johnson, Peter Handke, Thomas Bernhard und Wolfgang Koeppen bereits in umfangreichen Einzelausgaben vorliegen.
Neben dem Briefwerk erhebt sich mit Unselds seit 1970 geführter „Chronik“ ein weiteres Text-Gebirge, das von seiner unfassbaren Produktivität und Umtriebigkeit zeugt. Tag für Tag hat Unseld hier alle Begegnungen, Gedanken, Pläne, Ereignisse, Privates, aber vor allem Geschäftliches festgehalten. Die Begründung dafür lieferte er 1976 selbst:
Die Chronik gehört heute zum Bestand des Siegfried Unseld Archivs, dem wohl umfangreichsten Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erschlossen wird. Zu Unselds Hundertstem wird sie nun online frei zugänglich.
Geduld und Großmut mit den Literatur-Stars
Zeigt Unseld sich in der Chronik nachdenklich und unverstellt, so agierte er als Briefeschreiber eher taktisch. Die Briefe bezeugen Kraft und Kalkül, Charme und auch Härte eines Mannes, der immer genau zu wissen schien, was er wollte. Er konnte umschmeicheln und umwerben, ohne dass die Umschmeichelten das merkten.
Er konnte Anteil nehmen in schweren Stunden und musste sich doch ständig und reihum den Vorwürfen seiner Autoren stellen, die immerzu darüber klagten, er kümmere sich zu wenig um sie. Ein Ensemble von Stars zu vereinen, gleicht der Quadratur des Kreises. Unseld hat diese Kunst mit der nötigen Geduld und Großmut beherrscht.
Seine Briefe setzten die Gespräche fort, bündelten sie, machten Angebote, warben, widersprachen, dienten aber auch der Selbsterforschung und der Festigung der eigenen Position. Wichtiger als die Briefe war diesem Kommunikationsgenie nur das persönliche Gespräch, so auch im Konflikt mit Max Frisch:
Die Einsamkeit des Erfolgs
Unseld wollte Freund sein, nicht nur Partner. Das war schwer, weil der Verleger eben immer auch Unternehmer ist und das Geschäftliche die Freundschaft durchkreuzt. In Gelddingen müsse man Freunde wie Feinde betrachten, schrieb er an Ingeborg Bachmann, was bedeutet, man müsse sich „präzise an Abmachungen halten“.
So wurde es um den Menschensammler Unseld, der so gerne der Freund seiner Autoren gewesen wäre, immer einsamer. Am 1. Januar 1977, dem 25. Jubiläum seines ersten Arbeitstages im Hause Suhrkamp, notierte er in seiner „Chronik“:
Eine dieser Freundschaften, an der er über alle Differenzen hinweg festhielt, verband ihn mit dem späteren amerikanischen Außenminister Henry Kissinger, seit er im Jahr 1955 das von ihm geleitete „International Seminar“ in Harvard besucht hatte.
Buch über die transatlantische Freundschaft mit Henry Kissinger
Der Publizist Willi Winkler hat nun über diese Freundschaft ein ganzes Buch geschrieben, das Kissingers Werdegang vom drangsalierten jüdischen Schuljungen aus Fürth, der im amerikanischen Exil zu einem der einflussreichsten Politiker des Landes wurde, mit Unselds Lebenslauf von der Ulmer Hitlerjugend über die Kriegsmarine zum bedeutendsten Verleger miteinander kurzschließt.
Die Geschichte des Suhrkamp-Verlags betrachtet Winkler mit besonderem Schwerpunkt auf die wechselhaften transatlantischen Beziehungen, von Amerikabegeisterung der Autoren bis hin zu schrillen Protesten zur Zeit des Vietnamkrieges. Das ist durchaus informativ, wenn auch ziemlich holzschnitthaft.
Unseld hielt auch dann treu zu Kissinger, als der als Berater Nixons mitverantwortlich war für Krieg und Napalm-Einsatz. Gegenüber seinen Autoren versuchte er stets, das Politische zurückzudrängen, jedenfalls nicht zur Richtschnur einer Freundschaft zu machen. Nur so war es möglich, im Verlag die verschiedensten Charaktere und politischen Strömungen nebeneinander bestehen zu lassen.
Unselds historische Leistung bestand genau darin, dass er den Verlag als Abbild der geistigen Situation der Zeit begriff und nicht als Stoßtrupp in diese oder jene politische Richtung. Als Verleger suchte er zu dämpfen und auszugleichen.
Dafür brauchte es diesen raumfüllenden, vorwärtsstürmenden, wollenden Mann, der Konflikte und persönliche Attacken aushalten konnte und seinen Korrespondenzpartnern auch geistig ebenbürtig war. Das lässt sich vor allem in den „Hundert Briefen“ Unselds noch einmal beeindruckend nachvollziehen.
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Platz 4 (1) 50 Punkte PETER HANDKE / SIEGFRIED UNSELD: Der Briefwechsel
"Sehr geehrter Herr Handke", "sehr geehrter Herr Doktor", "lieber Peter", lieber Siegfried" - Briefe aus 35 Jahren, ein nur sehr selten erschöpfter Verleger, ein nicht ganz einfacher Autor, Freunde, weil sie bei allen Spannungen eines teilen: den Dienst an der Literatur.