Jane Campbell hat sich Zeit gelassen. Mit 82 Jahren legt die britische Psychotherapeutin nun ihren ersten Roman vor. Hier tummeln sich Analytiker und andere kluge Leute, die allesamt nicht erkennen, was sie im Inneren antreibt. Und alle sind auf der Suche nach der richtigen Interpretation des Begriffs „Liebe“. Gut gemachte, anspruchsvolle Unterhaltung.
„Ach, wir kennen uns wenig, / Denn es waltet ein Gott in uns.“ In diesen Zeilen von Friedrich Hölderlin muss man nur ein Wort ersetzen, und schon ist man bei Sigmund Freud: Wir kennen uns wenig, denn es waltet das Unbewusste in uns. Damit ist zugleich das Sujet des ersten Romans der Britin Jane Campbell umrissen: die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Realität. Oder, wie es im Buch heißt:
Das Bild stammt vom Philosophen Baruch Spinoza, der bekanntlich von der Idee des freien Willens nicht viel hielt. Campbells Roman „Bei aller Liebe“ verbindet diesen Gedanken mit den undurchschaubaren Mechaniken unserer Seele, die besonders unrund laufen, wenn es um die Spielarten der Liebe geht, die „interpretations of love“, wie das Buch im Original heißt.
Die Gegenwart der Handlung sind die Neunzigerjahre, Auslöser aber sind Dinge, die sich Jahrzehnte zuvor ereignet haben. Es geht um Erinnerungslücken, Reue und Vergebung und einige letzte Dinge. Neben Freud werden Joseph Conrad und C. G. Jung zitiert.
„Bei aller Liebe“ ist also kein seichtes Lesefutter, vielmehr die Sorte gut gemachter, anspruchsvoller Unterhaltung, mit der etwa auch Campbells Landsleute Julian Barnes und Ian McEwan ihre Leserschaft fordern und erfreuen.
Unter Professoren und Psychotherapeuten
Dementsprechend intellektuell ausgestattet sind die drei Protagonisten, die im Wechsel erzählen: der altersdepressive, emeritierte Oxforder Alttestamentler Malcolm Miller, seine geliebten Nichte Agnes Stacey, eine Philosophieprofessorin Mitte fünfzig, sowie der Arzt und Psychoanalytiker Joe Bradshaw, den mehr mit seiner ehemaligen Patientin Agnes verbindet, als er lange Zeit ahnt. Als junge, unglücklich verheiratete Frau hat sie ihn einst so fasziniert, dass er fast die berufsethischen Grundsätze des Therapeuten vergessen hätte.
Warum dies fatal gewesen wäre, enthüllt das Buch auf den ersten Seiten, in einem Brief, den Malcolms Schwester Sophy kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs an Joe Bradshaw geschrieben hatte. Sie wollte zu dem jungen Sanitäter, den sie nach einem leidenschaftlichen One-Night-Stand mitten im Bombenhagel aus den Augen verloren hatte, wieder Kontakt aufnehmen.
Unter anderem, weil sie, inzwischen Ehefrau und Mutter, annahm, bei der Gelegenheit sei ihre Tochter Agnes gezeugt worden. Ihren Bruder Malcolm beauftragt Sophy mit der Übergabe des Briefs an Joe. Doch als sie am selben Tag tödlich verunglückt, entschließt sich Malcolm nach Lektüre, diese Blätter für sich zu behalten.
Erst fünfzig Jahre später rückt er damit heraus. Was im Leben sowohl von Agnes als auch von Joe als Volltreffer einschlägt. Wie geht man damit um, dass die Patientin sich als Tochter, der Therapeut sich als Vater entpuppt?
„Es ist alles ein Haufen Mumpitz, und dennoch ...“
Zwar ist das Buch nicht, wie der deutsche Verlag nahelegt, ein Roman voller „Psychotherapeut:innen“. Aber es ist der Roman einer Psychotherapeutin, und man darf getrost annehmen, dass es Jane Campbells eigene Sicht der Dinge wiedergibt, wenn Joe Bradshaw über die Freud’sche Psychoanalyse sagt:
Natürlich hat der Analytiker Joe diese Prüfung regelmäßig vorgenommen – und sich, dem Stein Spinozas vergleichbar, erfolgreich eingeredet, er sei Herr seiner Entscheidungen. Dabei ist es der Prügel des Begehrens, der ihn ebenso regelmäßig in unabsehbare Richtungen, sprich, zu neuen Frauen geschleudert hat.
Doch auch Agnes kennt sich wenig. Am Morgen des Hochzeitsempfangs ihrer Tochter trennt sie sich von ihrem verheirateten Liebhaber, küsst mittags kurzentschlossen einen Mann, der sie seit langem verehrt, und landet am Ende des Tages doch wieder mit dem bisherigen Geliebten im Bett.
Schmaler Grat zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit
Malcolm wiederum, der Oxforder Theologieprofessor, muss einsehen, dass es nicht etwa eine selbstlose Tat war, im besten Interesse der verwaisten kleinen Nichte, den Brief seiner Schwester zu unterschlagen, sondern ein Akt der Selbstsucht, weil er die Liebe des Kindes nicht teilen wollte.
Damit hat er Agnes nicht nur den leiblichen Vater, sondern auch die Möglichkeit vorenthalten, ihre schmerzhaft vage Erinnerung an die verlorene Mutter zu vervollständigen. Aber ihm wird am Ende verziehen:
Der schonungslose Blick, der an Campbells Erzählungen gerühmt wurde, ist hier nicht selten tränenverschleiert. Zum Glück rumpeln die verschiedenen Beziehungsdreiecke so munter aneinander, dass sich über all den herzzerreißenden Wendungen eine milde Ironie ausbreitet.
Es ist die Ironie des Lebens selbst, das ja immer auch ganz anders hätte verlaufen können. Ein paar kleinere doppelte Böden, die Campbell einbaut, lassen das wacklige Fundament aller menschlichen Erinnerung erkennen. Wer sich an ein paar Leerstellen und losen Enden der etwas zu ambitionierten Konstruktion nicht stört, wird einen Roman lesen, der zum Weinen und zum Lachen bringt – und vor allem dazu, sich nicht allzu sehr auf die Weisheit eigener Entscheidungen zu verlassen.