Buchkritik

Alex Lissitsa – Meine wilde Nation

Stand
Autor/in
Jochen Rack

In seinem Buch „Meine wilde Nation“ zeichnet Alex Lissitsa ein facettenreiches Portrait der Ukraine, das sich nicht nur heldenhaft im Krieg gegen Russland, sondern auch im Kampf gegen die Korruption im Innern behaupten muss.

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Alex Lissitsa, der im Jahr 1974 in einem kleinen Dorf in der Nähe der nordukrainischen Stadt Tschernihiw geboren wurde, blickt auf sein Land mit den Augen des studierten Agrarökonomen. Im Lauf seiner beruflichen Karriere stieg er zum Leiter eines riesigen ukrainischen Landwirtschaftskonzerns auf, der sein Geld mit Getreide und Milchwirtschaft verdiente.

Zwangsläufig hatte Lissitsa vielfältige Verbindungen in die Politik und kann daher in seinem Buch, das von den beiden Kriegsjahren 2022 bis 2024 erzählt, mit dem Blick des Insiders berichten, der weiß, was hinter den verschlossenen Türen des Präsidialamts gesprochen wird.

Lissitsa versteht genau, wie seine Landleute ticken, er kennt ihre Tugenden wie ihre Laster und nimmt sie von der Kritik nicht aus, vor allem wenn es um die grassierende Korruption im Land geht. Doch mit der gleichen Aufrichtigkeit erzählt er von der Unbeugsamkeit, mit der sich seine Mitbürger gegen die russische Aggression behaupteten.  

Ich habe ernsthaft befürchtet, dass sie sofort das Handtuch werfen, die weiße Fahne herausholen und die Invasion, so sie denn kommt, gleichgültig über sich ergehen lassen werden. „Na ja, jetzt kommen eben die Russen. Das ist auch in Ordnung.“ Doch nun geschieht etwas völlig anderes. Die Leute halten zusammen. Sie lehnen sich gegen die Besatzer auf. Das erfüllt mich mit Stolz. Sie haben etwas gelernt und verhalten sich nicht mehr so, wie es die Ukrainer jahrhundertelang getan haben. 

Anhaltender Widerstand gegen die Russen über Generationen hinweg

Von dem anhaltenden Widerstand gegen die Russen gibt Lissitsa in seinem Buch, das der Chronologie der Ereignisse in einem losen Tagebuchstil von 2022 an folgt, eindrucksvolle Beispiele. Der Hass, den die Russen mit ihrem Angriff und ihrer brutalen Besatzung geschürt hätten, werde über Generationen wirksam bleiben.

Lissitsa ist ein entschiedener Patriot, aber das heißt für ihn, auch seine eigenen Landsleute nicht von der Kritik auszunehmen. So prangert er schonungslos die Kriegsgewinnler und politischen Karrieristen an.

Vor allem berichtet Lissitsa mit dem Wissen des Experten davon, wie er dem von ihm geleiteten Agrarbetrieb im Krieg zum Überleben half: Zerstörungen der Infrastruktur zwingen ihn, einen einst florierenden Milchbetrieb zu schließen, auf den Anbauflächen müssen Minen geräumt, auf einer internationalen Konferenz zum Wiederaufbau des Landes Kredite besorgt werden.

Lissitsas Rückblick auf die Entstehung des Agrarkonzerns ist ein anschaulicher Beitrag zur postsowjetischen Wirtschaftsgeschichte des Landes. Ebenso anschaulich schildert er seine persönlichen Erlebnisse im Krieg – die Flucht bei Kriegsausbruch nach Westen, sein Wiedersehen mit der Familie, die Sorge um die in der Wohnung zurückgelassene Katze, die Probleme mit der eigenen Gesundheit.

Dichte Beschreibung von Land und Leuten

Die dichte Beschreibung der sozialen und politischen Verhältnisse in der Ukraine weckt ein tiefes Verständnis für Land und Leute, deren Charakter Lissitsa durch einen halsstarrigen Individualismus und einen Zustand der Wildheit gekennzeichnet sieht. Das Festhalten an Traditionen, auch eine gewisse Rückständigkeit aus sowjetischer Zeit verbänden sich mit neuen Erfahrungen aus 30 Jahren Kapitalismus: 

Der wahre Ukrainer hat sehr wohl das neueste iPhone, aber er nutzt es als Taschenlampe, um nachts draußen den Weg über den dunklen Hof zum Plumpsklo zu finden. 

Kulturhistorische Exkurse, politische Reflexionen und die mit spitzer Feder gezeichneten Portraits seiner ukrainischen Landsleute verbindet Lissita auf eine zwanglose Weise. Sein Buch über die „Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“, wie der Untertitel lautet, ist ebenso spannend wie lehrreich zu lesen. Und es ist das Plädoyer eines engagierten Patrioten, der sein Land fit machen will für die Aufnahme in die EU. 

Mehr Literatur über den Krieg in der Ukraine

Buchkritik Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hrg.) – Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine

Von der Bilderflut des Ukraine-Kriegs handelt dieser brandaktuelle Sammelband, aber auch vom Versuch, über Momentaufnahmen hinaus seine Folgen einzuordnen.
Rezension von Judith Leister.
Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-02982-4

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