SWR2 lesenswert Kritik

Walter Boehlich, Nicolas Berg (Hrg.) – Der Berliner Antisemitismusstreit

Stand
Autor/in
Judith Leister

Im Jahr 1879 ritt der Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke eine üble Attacke gegen die deutschen Juden - bis der Althistoriker Theodor Mommsen sich in die Debatte einmischte. Jetzt wurde eine Textsammlung zum sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit“ neu aufgelegt.

Im November 1879 schrieb der angesehene Universitätsprofessor Heinrich von Treitschke in einem Artikel in den „Preußischen Jahrbüchern“ – Zitat:

„In tausenden deutschen Dörfern sitzt der Jude, der seine Nachbarn wuchernd auskauft. Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft ist die Zahl der Juden nicht sehr groß; umso stärker die betriebsame Schar der semitischen Talente dritten Ranges.“

Die Reaktion der deutsch-jüdischen Gemeinschaft auf das antisemitische Machwerk war Fassungslosigkeit. So schrieb etwa der Historiker Heinrich Graetz, bekannt durch seine monumentale „Geschichte der Juden von den Anfängen bis zur Gegenwart“:

„... der Genius der Menschheit möge Ihnen verzeihen, dass Sie (...) mit diesem Schlagwort den Fanatismus der Menge gegen eine schwache Minorität zu schüren sich nicht scheuten.“

Der liberale Politiker Ludwig Bamberger verwies auf die lange Tradition der Judenfeindlichkeit in Deutschland:

„Gestehen wir es uns ehrlich: Wir haben es mit einer alten, von Geschlecht zu Geschlecht fortgezeugten Antipathie zu tun.“

Empört zitierte Bamberger Treitschkes Diktum „Die Juden sind unser Unglück“ – ein Kampfruf, der in der Zeit des Nationalsozialismus bekanntlich zum Mordaufruf wurde.

Der einzige bedeutende deutsche Universitätsgelehrte, der damals für die jüdische Seite Partei ergriff, war der Berliner Althistoriker Theodor Mommsen. Er erwiderte 1880 unter Berufung auf den Lessingschen Toleranzbegriff auf Treitschkes Artikel:

„Jeder Jude deutscher Nationalität hat den Artikel in dem Sinne aufgefasst und auffassen müssen, dass er sie als Mitbürger zweiter Klasse betrachtet, gleichsam als eine allenfalls besserungsfähige Strafkompagnie. Das heißt den Bürgerkrieg predigen.“

Der Angriff Treitschkes erschien vielen jüdischen Zeitgenossen wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Doch diesem gelang es mit seinem Ausfall sogar, einen neuen „Universitätsantisemitismus“ zu etablieren, einen Judenhass quasi für Gebildete.

Antisemitismus wurde nun zur patriotischen Pflicht. Angeblich „germanischen“ Eigenschaften wie „Arbeitsfreude“ und „Ehre“ stellte er negative, angeblich typisch jüdische Eigenschaften gegenüber. Seine Denkmuster waren außerordentlich wirkmächtig.

Im Zuge der Dekadenzdebatten um 1900 wurde es unter rechtsgerichteten Weltanschauungsdenkern nämlich modern, positiv konnotierte Reihen wie „Genie – männlich ­– deutsch“ in Kontrast zu negativen Reihen wie „Talent – weiblich – jüdisch“ zu konstruieren. Treitschke selbst hatte schon – siehe oben – von „semitischen Talenten dritten Ranges“ schwadroniert.

Auch die Publikationsgeschichte der erstmals 1965 vom Insel-Lektor Walter Boehlich herausgegeben Quellensammlung ist bemerkenswert. Boehlich hatte in der NS-Zeit als sogenannter „Halbjude“ gegolten; seine Mutter das KZ Theresienstadt überlebt. Boehlich kritisierte in der Nachkriegszeit vor allem „braune“ Personalien an den Universitäten.

1964 geißelte er die Berufung des Germanisten Hugo Moser, der in der NS-Zeit ein schäumender Antisemit gewesen war, zum Rektor der Bonner Universität. 1966 verhinderte er, dass der „gerichtsnotorische Nazi“ Fritz Martini die Büchner-Preisrede auf den Holocaust-Überlebenden Wolfgang Hildesheimer halten durfte.

Die Publikation von „Der Berliner Antisemitismusstreit“ 1965 stand auch im Kontext des Eichmann-Prozesses in Jerusalem und der Frankfurter Auschwitz-Prozesse. In gewisser Weise machte Boehlich Treitschke, der im Nachkriegsdeutschland als sakrosankt galt, in seinem Buch posthum den Prozess.

Die jetzt leicht erweiterte Textsammlung legt Zeugnis ab von einem antisemitisch gesinnten 19. Jahrhundert, in dem übrigens alle paar Jahre neue Ritualmordvorwürfe gegen Juden erhoben wurden. Mitten in Deutschland.

Suhrkamp Verlag, 544 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-633-54311-3

Stand
Autor/in
Judith Leister