Literatur

Trügerische Normalität: Die Ukraine auf der 75. Frankfurter Buchmesse

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte

Vom ukrainischen Stand auf der Frankfurter Buchmesse geht in diesem Jahr eine trügerische Normalität aus. Angesichts des Nahost-Krieges sind die Lebensdramen in der Ukraine in dieser Kriegsregion in den Hintergrund gerückt. Dabei sind in den Messe-Regalen der Ukraine Bücher zu finden, die einen sprachlos machen.

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Rote Alarmlampe im vergangenen Jahr

Noch im vergangenen Jahr blinkte am kleinen und improvisierten Stand der Ukraine eine rote Alarmlampe, die die ganze Messehalle der internationalen Verlage erleuchtete. Russland führte seit acht Monaten einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, und es wurde über grauenhafte Verbrechen des Aggressors etwa in Butscha berichtet.

Die Frage, die viele Besucherinnen und Besucher der Frankfurter Buchmesse bewegte, lautete dann auch: Wie kann in einer solchen Situation über Literatur aus der Ukraine gesprochen werden? Die Antwort des ukrainischen Messe-Teams lautete: Weil der russische Krieg auch ein Angriff auf die ukrainische Kultur ist.

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Carsten Otte diskutiert mit
Yevgeniy Breyger, Schriftsteller und Übersetzer („Frieden ohne Krieg")
Katharina Raabe, Lektorin für osteuropäische Literaturen beim Suhrkamp Verlag
Boris Schumatsky, Schriftsteller („Der neue Untertan")

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wurde auf einer großen Videoleinwand aus Kiew zugeschaltet, die Messe stand im Zeichen dieses weltweit geächteten Krieges. Und ein Jahr später? 

 „Fragility of Existence“ heißt das Motto der Ukraine

 Es gibt einen dreimal so großen Messestand der Ukraine, der mit Hilfe unter anderem des Auswärtigen Amtes äußerst professionell organisiert ist. „Fragility of Existence“ heißt das Motto der Präsentation.

Es gibt ein eigenes, nahezu elegantes Messelogo und ein umfangreiches Bühnenprogramm, in dessen Rahmen nicht nur die Folgen des Krieges auf die ukrainische Buchbranche, sondern auch Umweltverbrechen der russischen Armee besprochen werden. Claudia Roth saß schon am ersten Messetag auf dem Podium der Ukraine.

Doch das Interesse war nicht nur bei diesem Promi-Besuch erstaunlich gering. Eine seltsame und trügerische Normalität geht vom ukrainischen Messestand aus. Dabei gibt es tatsächlich Erschütterndes zu erfahren. 

Ukraine-Krieg ist zur Randnotiz geworden

 Auf einer Videowand wird über Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der ukrainischen Armee informiert, etwa über die Dichterin und Musikerin Yelyzaveta Zharikova, die sich freiwillig zum medizinischen Dienst an der Front gemeldet hat. Mit Blick auf den Konflikt im Nahen Osten scheinen diese Lebensdramen derzeit nur noch Randgeschichten in der medialen Berichterstattung zu sein.

Es gehen tatsächlich auch positive Signale von diesem Messeauftritt aus. Die Zahl der anwesenden Verlage aus der Ukraine hat sich vervielfacht. Es werden zudem deutlich mehr Übersetzungen ukrainischer Literatur ins Deutsche ausgestellt.

Literatur aus dem Kriegsland

In den Messe-Regalen sind Bücher zu finden, die einen sprachlos machen. „Mein ukrainisches Lieblingswort“ lautet ein solcher Titel, den Studierende aus der Ukraine herausgegeben haben. Es sind zumeist traurige und sehr poetische Texte. „Geborgenheit“, „Morgendämmerung“, „Horizont“, „Freiheit“, aber auch „leckeres Essen“ oder „Bratpfanne“ lauten die Lieblingswörter, die ein Leben im Krieg reflektieren. 

Die Bücher am Stand der Ukraine kommen aus allen Genres. Comics, Lyrik, erzählende Prosa, Sachbuch. In dem Band „Ukraine verstehen“ geht es um die „Spuren von Terror und Gewalt“, ein anderes Buch heißt: „Dein Blut wird die Kohle tränken“. Es handelt sich um eine Reportage in die besetzten Gebiete in den beiden östlichen Regionen der Ukraine, Donezk und Luhansk.

Ukrainische Bestseller jetzt auch auf Deutsch

Das Buch lässt nicht nur Intellektuelle aus dieser Region zu Wort kommen, sondern auch Bergleute, die vom Fluch und Segen des Bergbaus in diesem Teil der Ukraine berichten. Der Originalband wurde in der Ukraine zu einem Bestseller und mehrfach ausgezeichnet. Der Titel stand auf der Longlist des BBC Book Award und des Nonfiction Book Award.

Wer diese und andere ausgestellten Bücher zur Hand nimmt, vergisst schnell den Messetrubel. Die trügerische Normalität, die vom Stand der Ukraine in diesem Jahr ausgeht, verschwindet schnell nach der Lektüre nur weniger Zeilen. 

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