Buch der Woche

T.C. Boyle – Sprich mit mir

Stand
Autor/in
Anja Höfer

Sam ist ein besonders cleverer Schimpanse. Er kann in der Gebärdensprache kommunizieren, sich einen Cheeseburger bestellen und sogar lügen. Sam wohnt mit einem Sprachforscher in einer Art Wissenschafts - WG und hat in der Menschenwelt sogar eine Freundin gefunden, die schüchterne Studentin Aimee.

Als Aimees skrupelloser Boss den Affen als biomedizinisches Versuchstier verkaufen will, schmiedet sie einen Rettungsplan. 

T. C. Boyles neuer Roman erforscht die vermeintlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier und zeigt uns, wie primatenhaft wir wirklich sind. Boyle bleibt dabei immer realistisch, driftet nie ins Kitschige ab. „Sprich mit mir“ ist spannend, unterhaltsam und erzählerisch genial, ein „echter Boyle“ eben.

Ein Affe steht im Fokus von Boyles neuem Roman

Affen haben es dem Amerikaner T.C. Boyle neuerdings angetan: In seinem letzten Roman „Licht“ um den LSD-Guru Timothy Leary gab es diese Geschichte um eine Frau, die in Learys Kommune mit einem Schimpansen zusammenlebt. Der rast kreischend durch die Flure, beschmiert die Wände mit Exkrementen und klaut ständig Pancakes.

In seinem neuen Roman macht Boyle einen Affen sogar zur Hauptfigur: Sam ist ein besonders cleveres Exemplar beherrscht sogar die Gebärdensprache.

„Der Vorhang hinter der Bühne teilte sich, und siehe da, ein Schimpanse in Windeln und einem Polohemd mit abgeschnittenen Ärmeln trat hervor, und er stützte sich nicht auf die Fingerknöchel, sondern bewegte sich in einem schwankenden Watschelgang wie ein Zweijähriger, was er, wie sich herausstellte, auch war. (…) Er stieß ein leises Grunzen aus, galoppierte, auf allen Vieren jetzt, über die Bühne, setzte über den Tisch und landete auf dem Schoß des Mannes in der Mitte.“

Sam der Schimpanse ist ein besonderes Tier

Sam hat es in die Fernsehshow „Sag die Wahrheit“ geschafft. Denn Sam ist ein besonderer Schimpanse: Dank seines menschlichen Lehrers beherrscht er die Gebärdensprache. Er ist in der Lage, sich einen Cheeseburger zu bestellen, Leute zum Narren zu halten und wenn es sein muss, sogar zu lügen.

Wie viel Mensch steckt in einem hoch entwickelten Tier? Und wie viel Tier steckt in uns, den Menschen? Diese Fragen beschäftigen den amerikanischen Autor T.C. Boyle schon länger.

Die tierische Seite blitzt bei Sam nur selten durch

In seinem Roman "San Miguel“ von 2013 schickte er drei Frauen aus der Zivilisation in die Wildnis, um zu sehen, wie die Natur sie nach und nach bezwingt. Jetzt, in „Sprich mit mir“, geht er den umgekehrten Weg: Er versetzt einen Affen in die mehr oder weniger zivilisierte Menschenwelt.

Sam lebt nämlich zum Zweck der Sprachforschung an Primaten in einer Art WG um den Wissenschaftler Guy Schermerhorn. Er guckt Fernsehen, blättert durch bunte Magazine, trinkt abends gerne einen Gin Tonic und raucht - die Geschichte spielt Ende der 70er Jahre - mit seinen Mitbewohnern auch mal einen Joint.

Nur gelegentliche Wutausbrüche und Attacken erinnern daran, dass Sam eben auch ein unberechenbares Tier ist, mit dem die Instinkte dann doch mal durchgehen.

Durch die platonische Liebe zu Aimee entwickelt Sam eine Persönlichkeit

Als eines Tages die schüchterne Studentin Aimee als neue Hilfskraft zu der Wissenschaftler-Kommune stößt, entwickelt sich zwischen ihr und Sam eine bedingungslose, platonische Affen-Liebe, unter der sich Sam immer mehr zu einer echten Persönlichkeit und zu einem intelligenten Wesen entwickelt.

„Sam saß friedlich neben Aimee auf dem Sofa und blätterte in der neusten Ausgabe von Life. Sie benannte die Objekte auf den Fotos - Auto, Baby, Flugzeug, Hund - und Sam machte die entsprechenden Gebärden, fast als wollte er sie ihr beibringen. Guy saß ihnen gegenüber im Sessel und kam aus dem Staunen nicht heraus. Er machte Notizen, und er wäre aufgestanden und hätte die Videokamera geholt, wenn er nicht befürchtet hätte, den Zauber dieses Augenblicks zu zerstören.“

Boyle findet in der Erzählung großartige poetische Bilder

Den Zauber dieser einzigartigen Mensch-Tier-Beziehung zerstört dann Schermerhorns Boss, der zwielichtige Forscher Moncrief. Mehr vom schnellen Profit als vom Wissensdrang getrieben, will er die Sprachforschungen mit Sam beenden und den Schimpansen für biomedizinische Experimente verkaufen. Für Aimee bricht eine Welt zusammen, und sie fasst einen wahnwitzigen Plan.

T.C Boyle zeigt sich beim Aufbau des Spannungsbogens seiner Geschichte wieder mal als großer Meister des klassischen Erzählens, die Handlung schnurrt wie ein gut geöltes Uhrwerk, Boyle findet großartige poetische Bilder, kongenial übersetzt von Dirk van Gunsteren.

Der Roman ist immer dann besonders ergreifend, wenn er aus Perspektive des Schimpansen erzählt wird

Die Geschichte wird abwechselnd aus den Perspektiven aller Hauptfiguren erzählt, auch aus Sicht von Sam. Es sind die ergreifendsten Momente des Romans: wenn sich Boyle in den gefangenen Schimpansen hineinversetzt:

Wie jedes andere Lebewesen kannte er Zeit: Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, den langsamen Wechsel der Jahreszeiten, (…) Er kannte ZEIT FÜR FRÜHSTÜCK, ZEIT FÜR GIN TONIC, ZEIT FÜR GESCHICHTE, ZEIT FÜR BETT - doch hier drinnen gab es keine Zeit. Hier drinnen war Zeit eine Leere, die plötzlich von Schreien und Gewalt zerrissen wurde. (…) Was SCHMERZ war, wusste er. Und Leid kannte er auch, obwohl er kein Wort dafür hatte. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke (…). Er wollte sich nicht bewegen, wollte sich nicht aufrappeln, wollte nicht existieren.“

„Sprich mit mir“ konfrontiert den Menschen mit seiner eigenen Primatenhaftigkeit

Boyle bleibt, bei aller Sympathie für seinen tierischen Protagonisten, ein Realist, der niemals der Gefahr unterliegt, das Mensch-Tier-Verhältnis irgendwie zu verkitschen.

Autor T.C. Boyle
Autor T.C. Boyle

Im Gegenteil, manchmal treibt er es mit absurdem Witz auf die Spitze - etwa, als Aimee Sam tatsächlich taufen lässt, und der Pfarrer sich bemüht, dem Affen das Leben Jesu näher zu bringen, was diesen natürlich nicht die Bohne interessiert.

„Sprich mit mir“ konfrontiert uns - mitfühlend und komisch - mit der eigenen Primatenhaftigkeit und zeigt uns auch, dass die Tiere uns vermutlich viel näherstehen, als wir wahrhaben möchten.

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Anja Höfer