Reportage

„Sporveisdikt“ – Lyrik in den Osloer Straßen- und U-Bahnen

Stand
Autor/in
Anja Höfer

Mehr Poesie wagen! Das ist die Vision hinter dem Projekt „Sporveisdikt“, auf Deutsch soviel wie „Schienenlyrik“: In sämtlichen Straßen- und U-Bahnen der norwegischen Hauptstadt Oslo hängen gerade Plakate mit Gedichten zeitgenössischer norwegischer Lyrikerinnen und Lyriker. Bei den Einheimischen kommt die Aktion gut an, auch, weil der Blick mal vom Handy abgelenkt wird und sich ganz neue Gedanken und Perspektiven auftun.
Reportage von Anja Höfer.

Bis zu 500.000 Menschen transportieren die öffentlichen Osloer Busse und Bahnen täglich, die meisten davon morgens zu ihrem Arbeitsplatz und abends wieder zurück nach Hause. Fast alle sind in ihre Mobiltelefone vertieft und wischen gedankenverloren auf den Displays herum. „Sporveisdikt“ - „Lyrik auf der Schiene“ -  heißt das Projekt, das den Blick der Passagiere für einige Wochen umlenken will: auf die altrosa Plakate nämlich, die gerade in allen Zügen der Osloer Straßen- und U-Bahnen hängen. Darauf zu lesen sind Gedichte wie dieses hier von Brynjulf Jung  Tjønn:

mein koreanischer name
suh, jung-soo
mir gegeben
weil niemand wusste wie ich
heiße
mein geburtsdatum
15.11.80
mir gegeben
weil niemand wusste wann
ich geboren wurde
mein norwegischer name
brynjulf jung tjønn
mir gegeben
weil ich der hoferbe sein sollte

Pendlerin Mia Tønnessen, die jeden Tag mit der Tram zu ihrem Büro beim norwegischen Verlag Gyldendal fährt, hat das Gedicht des jungen norwegisch-koreanischen Dichters gleich berührt:

Es ist ein kurzes Gedicht, und der Autor kommt ursprünglich aus Südkorea. Er wurde adoptiert in Norwegen in 1983, und die norwegischen Eltern haben ihm einen norwegischen Namen gegeben und hatten natürlich viele Erwartungen an den Sohn: Er war der erste Sohn und er sollte Haupterbe sein. Und das Gedicht gibt einen Eindruck von diesen großen Erwartungen von seinen norwegischen Eltern.“

Gedichte von vier zeitgenössischen norwegischen Dichterinnen und Dichtern wurden für „Sporveisdikt“ ausgewählt: Neben Brynjulf Jung Tjønn die erst 26jährige Sarah Zahid: Norwegerin mit pakistanischen Wurzeln, der im letzten Jahr verstorbene Lyriker Nils Christian Moe-Repstad und der 47jährige Geir Halnes. Sein Gedicht ist ganze 5 Zeilen kurz:

ist es die Einsamkeit
die dich wachsen lässt
wachse nur, du
in einem unendlich großen Universum
wird sich jemand finden der versteht

Es sind bewusst nicht die ganz bekannten Namen der Dichter-Szene, sagt der Osloer Stadtrat für Kultur, Omar Samy Gamal:

„Das ist eine Gelegenheit für junge Poeten, den Sprung in die Literaturszene zu schaffen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es nicht nur die bekannten Lyrik-Größen sind, die sich hier zeigen. Wir laden sehr unterschiedliche Dichterinnen und Dichter ein, ihre Worte und ihre schönen Gedanken mit uns zu teilen. Das ist toll.“

An ausgewählten U-Bahnstationen tauchen die Autoren manchmal auch persönlich auf und lesen „live“ aus ihren Gedichtbänden vor. Der norwegische Kulturrat finanziert das Projekt großzügig: drei Runden mit jeweils unterschiedlichen Lyrikerinnen und Lyrikern sind für dieses Jahr geplant, im kommenden Jahr sollen weitere drei Runden folgen, in denen die Bahnen der Stadt mit Gedichtplakaten behängt werden.

„So haben viele Leute die Gelegenheit, Kunst zu erleben. Und vielleicht schweifen ihre Gedanken mal ab: weg von ihren Handys und den Alltagsgedanken. Das ist vielleicht das Schönste an diesem Projekt: Dass wir im Laufe des Tage mal etwas anderes erleben.“

Die Kommune Oslo hat sich zum Ziel gesetzt, dass jeder Einwohner mindestens einmal pro Tag mit Kunst in Berührung kommen soll: Das können Kunstwerke im öffentlichen Raum sein, genauso wie Gedichte in der Straßenbahn. Jannik Dam Kehlet, der ebenfalls täglich die Tram nutzt, freut sich über die Poesie-Offensive der Stadt:

„Ich finde das schön: Du siehst 5 Zeilen, und plötzlich denkst Du an was ganz anderes! Du wirst irgendwie so aus Deinem Alltagstrott gerissen. Das gibt mir etwas. Sich einfach in die Tram zu setzen und plötzlich ganz unverhofft einem Gedicht zu begegnen. Das mag ich wirklich sehr.“

Ausgerechnet Gedichte, die sich als Bücher in Norwegen genauso wie in Deutschland eher schwer verkaufen, erleben in anderen Medien ein ziemlich erfolgreiches Comeback: Als kurze Texte passen sie gut ins Netz, weil sich unsere Aufmerksamkeitsspannen durch das Sliden und Surfen am Handy und am Computer verkürzt haben. Und auch die flüchtigen Begegnungen mit Lyrik im öffentlichen Raum hinterlassen ihre Spuren, meint die Verlagsangestellte Mia Tønnessen:

„Es ist nicht oft, dass ich Lyrik lese viel Romane und Zeitungen, Zeitschriften, aber ich lese nicht wirklich Gedichte. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich nicht die Geduld. Aber dann sitze ich in der Straßenbahn. Und plötzlich ist das Gedicht vor mir. Ich habe Zeit, vielleicht bin ich ein bisschen müde, ich gucke nicht auf mein Handy und dann plötzlich sehe ich dieses Gedicht und ich lese, und es beeindruckt mich.“

Stand
Autor/in
Anja Höfer