In ihren feministischen Essays ist Siri Hustvedt von produktiver Aggression getrieben. Zwischen Familienerinnerungen und Texten über Literatur sind sie die Höhepunkte in diesem anregenden und aufklärenden Buch der New Yorker Autorin, das klar macht: der Feminismus hat noch mehr vor als hinter sich.
„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, so lautet eine Einsicht des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, die auf Anhieb einleuchtet. Bei der 69jährigen New Yorker Autorin Siri Hustvedt sind nicht nur ihre Romane durchaus offensiv „gedacht“ – sie machte auch den Essay früh zu ihrer Form. Als Nachdenken über die Welt wie über sich selbst, vorzugsweise in einer anschaulichen Verbindung.
Ihr Buch „Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven“ erschien 2010 und nahm eine sie jählings befallene Erkrankung zum Anlass, die eigene Psyche wie den Stand der Neurowissenschaft erzählerisch leicht, analytisch klar und sachlich sehr ernst in den Blick zu nehmen. Das ist, wenn man so will, der Idealfall eines Essays: am Ariadnefaden der Erkenntnis ziehen und alles be- und verarbeiten, was auf dem Weg durchs Labyrinth des Lebens und des Wissens sich in den Weg stellt und also offenbar dazugehört.
Von Essays in diesem allerdings sehr anspruchsvollen Sinne kann in dem nun erschienen Band „Mütter, Väter und Täter“ nicht durchweg die Rede sein. Es handelt sich um eine Sammlung von Erinnerungen, literarischen Vorträgen – und ein paar ungemein beeindruckenden Aufsätzen zu Themen, die ihr nicht nur am Herzen liegen, sondern auch von einer produktiven Aggression getrieben sind. Knapp 450 sehr diverse Seiten also.
Hustvedt wuchs in den USA als eine von vier Töchtern norwegischer Immigranten auf, in einer traditionellen Familie. Ein freundlicher Genpool sorgte für ein langes Leben aller Beteiligten, so dass Hustvedts Familienerinnerungen weite Zeitspannen umfassen und Einsichten in biographische Prozesse erlauben, die beinahe idyllisch sind: Ohne schwere Schicksalsschläge, ohne Sucht und Gewalt können sich Beziehungen hier unbedroht in geradezu zärtlicher Ambivalenz entwickeln und auch so betrachtet werden. Man liest diese Gedächtnisstücke gern, doch Dringlichkeit, ja Wucht bekommen Hustvedts Texte erst, wenn jene Unruhe und jener zeitgenössische Zorn den Antrieb bilden, die geradezu klassisch feministisch sind.
„Im Lauf der Jahre habe ich einen feinen Riecher für den besonderen Geruch von Misogynie entwickelt. Wenn eine Frau Autorität für sich beansprucht oder von anderen als Autorität anerkannt wird, dann riskiert sie Bestrafung. Ihre Autorität wird besser geduldet, wenn sie Gemeinschaftssinn beweist, wenn sie ihr Wissen lächelnd, durch unterwürfige, gefällige Blicke aufweicht oder, besser noch, anderen große Verdienste an ihrer Arbeit zuschreibt oder erklärt, sie habe einfach wahnsinniges Glück gehabt.“
Hustvedt spricht hier aus Erfahrung. Sie hat lernen müssen, sich gegen Entwertung zu wehren – als junge Akademikerin, die zu attraktiv war, um auch noch als intelligent gelten zu dürfen. Dann als Ehefrau des Schriftstellers Paul Auster – der, entgegen jeder aufmerksamen Lektüre, grundsätzlich als der Intellektuelle in dieser Verbindung gehandelt wurde. Und schließlich macht Hustvedt ihre Erfahrungen als eine politische Leserin. Die sich den Stand der Forschung in jenen Gebieten aneignet, die sie interessieren: die Neurowissenschaften, die Genforschung, die Kunstgeschichte. Welche Rolle spielt die Genderfrage da? Die Geburt als leiblicher Vorgang, stellt sie fest, spielt in der repräsentativen Kunstgeschichte praktisch keine Rolle.
„Das Kunstschulbuch, das ich als junges Mädchen kannte – H. W. Jansons History of Art, zuerst erschienen 1962 und noch immer Standard –, ist voller weiblicher Akte, Madonnen mit Kind, Kreuzigungen, Schlachtenszenen und Totenbetten, aber ohne eine einzige Geburt. 2011 wurde in Poggio Colla unweit Florenz in Italien die Scherbe einer etruskischen Vase entdeckt. Darauf befindet sich das Bild einer hockenden Frau. Zwischen ihren Beinen kommt der Kopf eines Säuglings zum Vorschein. Aber die etruskische Kultur war keine griechische Kultur, und es ist die griechische Zivilisation, eine vom Traum der paternalen Geburt besessene Tradition, die dem Westen jahrhundertelang zwanghaft als Bezugspunkt galt. Auslassung kann Vernichtung sein. Was fehlt, erzählt eine Geschichte. Im alten Griechenland waren Frauen und Sklaven nicht Teil des öffentlichen Lebens. Obwohl das ganze System von ihrer Mühsal abhing, blieben sie außen vor.“
Nicht nur die Geburt, so Hustvedts Argument, hat die westliche Kultur als trivial, der Behandlung nicht wert aussortiert. Sondern auch die Schöpfung selbst zu einem a-sozialen, geistigen Ereignis promoviert: Es ist die Idee, auf die es ankommt, die sorgt für platonische Erhabenheit. Und die Idee gehörte für Jahrtausende: dem Mann. Die Tatsache, dass der Mensch in einem weiblichen Wesen heranwächst, von Anfang an dessen sozialen und biologischen Wirklichkeit ausgeliefert ist, wird bis heute erfolgreich verdrängt – andernfalls würden Schwangere wie Mütter jenen rechtlichen Schutz und die soziale Fürsorge genießen, an der es nicht nur in den Vereinigten Staaten so verheerend fehlt. Und es geht, entgegen aller wissenschaftlichen Einsicht, mit diesem Verhängnis munter voran.
„Ray Kurzweil, ein Technik-Guru, der die goldene Zukunft der Singularität prophezeit, ist ein krönendes Beispiel: «In Zukunft», schreibt er, «werden wir therapeutisches Klonen praktizieren, eine sehr wichtige Technologie, die den BEGRIFF des Fetus erübrigt.» Durch die Klonierung eigener Körperteile zum Ersatz für jene, die unbrauchbar geworden sind, wird ewiges Leben gewährleistet sein. Kurzweil will nicht sterben. Natürlich würde das Klonen ganz neuer Menschen nicht nur die Begriffe Frau, Uterus und Fetus überflüssig machen, sondern auch die Dinge selbst, die sie bezeichnen. Der Wunsch ist alt. Vergessen wir die Frau.“
Es stimmt nicht heiter, diese Hustvedt zu lesen. Doch es klärt, wie bei den Essays von Virginia Woolf, den Kopf und die Realität. Der Feminismus, das macht Hustvedt so zwingend wie schmerzlich klar, hat immer noch sehr viel mehr vor als hinter sich.