Der Vater liebt Mira, und Mira liebt Annie. Nach dem Tod des Vaters nistet sich seine Seele in Mira ein, wodurch sich beide gemeinsam in ein Baumblatt verwandeln. Willkommen im neuen verträumt-politischen Roman der Kanadierin Sheila Heti! Er heißt "Reine Farbe" und erzählt von der Liebe, von der Natur und vom Ende der Welt, die wir nach und nach zerstören.
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag, 224 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-498-00247-3
Die 1976 geborene Sheila Heti ist eine kanadische Schriftstellerin, die seit zwei Jahrzehnten ein vielseitiges Werk geschaffen hat. Zuletzt hat sie vor sechs Jahren mit ihrem Essay "Mutterschaft" von sich reden gemacht, auch in Deutschland war das Buch ein großer Erfolg. Jetzt hat sie einen Roman vorgelegt, der einige Rätsel aufgibt: "Reine Farbe" – Stephanie Metzger.
„Diese Geschichte hier“ – heißt es ziemlich am Anfang dieses Romans – „handelt von einer vogelgleichen Frau namens Mira, sie ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zur rätselhaften Annie, die ihr wie ein distanzierter Fisch vorkommt, und der zu ihrem Vater, der wie ein warmherziger Bär auftritt.“
Mit fast biblischer Wucht und doch märchenhafter Einfachheit klärt die Kanadierin Sheila Heti gleich zu Beginn ihres Textes auf über Protagonisten und Handlung. Mira, die von ihrem Vater übermäßig geliebt wird, distanziert sich von ihm, flüchtet in Bücher, studiert Kunstkritik. Sie verliebt sich in Annie, eine Liebe, die beide nicht ausleben. Als der Vater stirbt, wandert dessen Seele in Mira. Eine Symbiose, die Mira erfüllt, sie aber auch erstarren lässt und sich fortsetzt in der Verwandlung beider in ein Baumblatt. Bis Annie Mira wieder aufweckt, ins Leben zurückholt. Es kommt zu einem Wiedersehen, das beide nicht näherbringt, sondern den Abstand zueinander nur deutlicher macht. Vor der buchstäblichen Verkleidung als Blatt, mit der Mira ihre Verbindung mit dem Vater und mit der Natur noch einmal reinszeniert, steht Annie verständnislos. Aber als Mira stirbt, ist die Freundin bei ihr. Beide Körper in einem Bett vereint, so wie es sich Mira schon immer gewünscht hat.
„Reine Farbe“ erzählt Miras Geschichte. Eine Geschichte von heute. Und doch ist diese Geschichte zeitlos überhöht. Denn es geht um Grundsätzliches: Um die Beziehung zur Natur, um Distanz und Nähe zwischen Menschen. Und um nichts weniger als das Ende der Welt, die der Mensch zugrunde richtet. Zumindest in der Version, wie Gott sie einst schuf. Um dann festzustellen, dass es einer zweiten Version bedarf, in der die Liebe walten kann und in der es Menschen vielleicht gar nicht mehr gibt. Aber Pflanzen. Die zweite Version des Daseins, ein Garten. Das Paradies?
„Reine Farbe“ ist ein Text, der anzieht und abstößt. Ein Buch zwischen Roman, Essay, Traktat, Dystopie und Utopie. Transformationen sind es, die Heti ihre Protagonistin durchleben lässt, und so darüber nachdenkt, was das Dasein ausmacht. Lebendigkeit hat die Autorin im Blick und meint damit viel mehr, als das menschliche Leben. Zugleich ist „Reine Farbe“ ein tief trauriger Text über das Ende und die Sterblichkeit. Dazu mischt die Autorin Formen, wechselt Erzählperspektiven, schreibt von einem „wir“, dessen Verortung diffus bleibt, lässt Zwiesprachen verschwimmen oder konfrontiert mit philosophischen Abhandlungen. So entsteht eine verführerische und zugleich beunruhigende Textur. Rätselhaftigkeit und Radikalität durchziehen das Buch. Und eben auch Romantizismus. Aber wer wäre nicht verführt davon, wie die neue Welt beschrieben wird: „Die zweite Version wird eine reife Liebe sein: dauerhaft, fair, stabil und richtig. Nicht wie eine erste Liebe: kurzlebig, schmerzhaft, orientierungslos und ganz falsch.“ Wenige Zeilen später dann aber sogleich der Bruch mit solcher Universalharmonie: „Sie (Mira) würde die Welt nur betrachten, um sie zu lieben – und Gott, ihr Schöpfer, würde sie hassen.“
Auch „Reine Farbe“ lebt von dieser Mischung aus Hass und Liebe, die die Autorin für die Menschheit zu empfinden scheint. Weil diese sich nicht wirklich mit der Umwelt oder den Mitmenschen verbindet und diese Verbindung doch sucht. Weil sie die Erde zerstört und sich in der Kunst ihre Heilung herbeiphantasiert. Basis dieses Ringens bleibt dabei die Gewissheit, dass es einen Neuanfang geben wird. Zur Not eben auch ohne den Menschen. Denn: „Liebenswert sind nicht die Menschen, sondern das Leben“, schreibt Heti. Das mag erneut sehr einfach klingen, ist aber auch ein gewichtiger Appell an den Menschen, über sich hinaus zu denken. Bei der Lektüre wird man sich dieser Aufforderung mit aller Ambivalenz, also sehr „lebendig“, und genau deshalb mit Gewinn auseinandersetzen müssen.