Heutzutage gegen den technologischen Fortschritt zu opponieren, hat das nicht etwas von Realitätsverweigerung? Und ist der Fortschritt nicht sowieso immer gekommen, ob wir wollten oder nicht? Doch Anfang dieses Jahres passierte etwas Seltsames: der Erfinder einer grundstürzenden Neuerung warnte vor seiner eigenen Erfindung – Sam Altman sprach vom Gefahren-Potential seiner Software Chat-GPT.
Die Ambivalenz technischen Fortschritts
Etwa zur gleichen Zeit muss Ralf Hanselle noch an seinem Essay „Homo digitalis – Obdachlos im Cyberspace“ geschrieben haben. Der Sprachbot findet jedenfalls nur kurz im – wie nachgereicht wirkenden - Vorwort Erwähnung, und zwar mit dem Hinweis, Chat-GPT sei ein Angriff auf das Selbstbild sowie auf den Eigenwert des Menschen.
Der ganze 120-seitige Essay kreist um genau dieses Thema. Was wollen und sollen wir hier auf der Erde? Welche Bedürfnisse haben wir? Dienen unsere technologischen Errungenschaften unserem seelisch-geistigen Wachstum? Oder ordnen wir unsere Bedürfnisse den Anforderungen der Maschine unter?
Ralf Hanselle widmet sich den Antworten auf diese Fragen unerschrocken, was heißen soll, ohne Angst davor, von den Kritikern als Kulturpessimist, ressentimentgeladener Ewiggestriger oder als sentimentaler Idealist gescholten zu werden.
Hanselle erinnert erst einmal an etwas, das wir schon mal gewusst hatten: Dass unsere Körper mitbeteiligt sind am Denken, Schaffen und Lieben; dass menschliche Kreativität mit Bewegung in der Welt zu tun hat; dass Ideen bevorzugt dann kommen, wenn wir uns nicht in gewohnten Bahnen bewegen.
Fortschreitende „Auflösung“ der Wirklichkeit
Aber wie kam es dann zu dem, was Hanselle ganz richtig als Flucht in den virtuellen Raum bezeichnet? Die Zeit, die wir auf digitalen Endgeräten verbringen, steigt jedes Jahr weiter an. Wie kam es zur fortschreitenden Entwertung, Hanselle nennt es „Auflösung“, der Wirklichkeit? Wenn wir dem Autor in seinem Rückblick folgen, dann begann alles mit der industriellen Revolution. Uhren verbreiteten sich massenhaft. Sie takteten den Alltag entsprechend zu erbringender Leistungen.
Hanselle zitiert die Anekdote über einen europäischen Wissenschaftler, der auf einer Himalayaexpedition seine indischen Träger fragt, wieso sie immer wieder pausierten. Die Antwort: Wir müssen warten, bis unsere Seelen nachgekommen sind. Trügt der Eindruck, oder stellen sich inzwischen viele, auch junge Menschen, die Frage, wo ihre Seele verlorengegangen ist? Der Zulauf zu Meditationskursen, Achtsamkeitsseminaren und Psychotherapien könnte ein Hinweis darauf sein. Und das ist dann auch gleich ein Beispiel für die Energie dieses Essays: Er provoziert auf jeder Seite eigene Gedanken des Lesers, seine Kommentare, ruft seine Erinnerungen hervor. Und weckt die Lust auf eine Debatte.
Zwei von fünf Kapiteln handeln vom Kollaps der christlichen Religion und dem machtvollen Erscheinen einer neuen. Hanselle nennt sie „Dataismus“.
Ich poste, also bin ich?
Dieser neuen Heilslehre dienen wir seit Jahren mit unseren Posts in sozialen Netzwerken, unseren Mails, Blogs und unseren Manuskripten im Netz, macht Hanselle klar. Mit diesen Daten füttern die neuen Hohepriester ihre KI-Programme, die uns – gegen ein gewisses Entgelt - das Leben bequemer machen sollen. Wir brauchen nicht mehr in die Welt hinauszugehen, suggerieren sie. Wir können sitzen bleiben und werden bedient. Wenn wir aber vor den Geräten sitzen bleiben, dann werden wir wohl vergessen, dass wir aus Geist, Seele und Leib bestehen und was Menschlichkeit bedeutet.
Ralf Hanselles Essay über die Kehrseite des technologischen Fortschritts verdient unser aller Aufmerksamkeit. Der Autor ist nicht nur belesen, er hat gründlich recherchiert, aus dem Ergebnis eigene Schlüsse gezogen, seine unabhängigen Gedanken in poetische Sätze gegossen – manchmal ein wenig zu sehr auf die dramatische Tube gedrückt. OK. Aber alles in allem ist ihm ein kluges und aufregendes Büchlein gelungen, über das wir reden müssen.