Viel Wasser, viele Vögel, alles will fließen und fliegen – Gespräch über "Das zweite Gedicht" vom Poeta Laureatus Michael Krüger mit SWR Literaturredakteur Alexander Wasner.
Es geht um die Form des Gedichts, warum man dafür 25 Fassungen braucht, ob man sich als Amtsdichter wohl fühlt, und wie es ist, mitten in den Krisen einen Frühling zu erleben.
Das zweite Gedicht
Noch hält die geschlossene Schneedecke über dem See,
doch sind ihre Tage gezählt. Ein paar kleine Vögel hüpfen
herum, die nicht wissen, ob der Schatten, der sie streift,
dem Bussard gehört oder dem Habicht im Aufwind.
Ich kann nicht entziffern, was sie schreiben, aber es ist
eine Schrift, etwas Babylonisches oder gar ein Psalm
in hebräischer Sprache, nur von oben zu lesen, nicht
vom Rand, wo ich stehe. Ich muss mich begnügen
mit der Übersetzung in den rohen Dialekt der Krähen:
Der Krieg ist nur als Erzählung verständlich.
Aber was ist zu verstehen? Wie überzeugend klingt alles,
wenn man kaum etwas weiss. Was wäre aus den Toten
geworden? Aus den Kindern der Toten? Früher, in den
Ländern des Abends und der Mitternacht, hiess es, man
solle das Wasser aus dem Brunnen schöpfen mit einem
Sieb; das sei angemessen, denn das Selbstverständliche
bleibt das Rätsel. Nun versperrt ein größerer Schatten
die bedürftige Sonne, es wird Zeit, ein Haus aufzusuchen,
in dem ein Krug auf dem Tisch steht, an dem ein Tropfen
hinabgleitet, unnütz und schön. Die Koffer sind gepackt,
gefüllt mit Demut und den vielen frommen Wünschen,
aus denen eine Vergangenheit besteht.
Und das Notizbuch mit den Aufzeichnungen zur
Enzyklopädie des Regens, Blatt für Blatt voller übermütiger
Worte? Vor der Tür bellt ein Hund , die ganze Nacht, dann
erbarmt sich ein Wind und trägt das Bellen so lange um die
Welt, bis es verstanden wird in allen Einsamkeiten.