Buchkritik

Pedro Almodóvar – Der letzte Traum. Zwölf Erzählungen

Stand
Autor/in
Juliane Bergmann

Fast schon filmreif ist die Entstehungsgeschichte von Pedro Almodóvars erstem Buch: Die zwölf Erzählungen hatte seine Assistentin Lola Garcia über etliche Umzüge hinweggerettet und archiviert. Sie war es auch, die den Anstoß für die Veröffentlichung gab. Das Ergebnis: Eine kryptische Autobiografie mit Figuren, wie wir sie aus Almodóvars Filmwelten kennen.

Die typische Almodóvar-Handschrift

Eine Frau, Mitte 20, skandalös aufgebrezelt, platzt ins Büro beim Direktor einer spanischen Ordens-Schule. Sie berichtet vom Tod ihres Bruders Luis, dem ehemaligen Lieblingsschüler des Direktors, und sie konfrontiert den Schulleiter mit Luis’ Memoiren: Seit der Kindheit wurde er in diesem Haus sexuell missbraucht – unter Stillschweigen der Erwachsenen.

„Ich fühlte mich in seinen Händen wie eine Lumpenpuppe … " liest sie dem Direktor vor. Der schnaubt. Sein Vertuschen ist aufgeflogen. Die Begegnung nimmt ein dramatisches Ende – mit überraschendem Wendepunkt. Die Erzählung „Der Besuch“ hat die typische Almodóvar-Handschrift: dunkle Geheimnisse, jahrzehntealte Verletzungen, Kritik an der Kirche und sexuelle Freizügigkeit als Selbstermächtigung.

»Sie sehen aus wie eine Prostituierte.«
»Guter Riecher …«

Stolz ist die Schwester auf die Empörung, die ihr Äußeres auslöst. Aus diesem Text macht Almodóvar 2004 den Film „Schlechte Erziehung“.

Ein Wiedersehen mit Figuren aus Almodóvars Schaffen

Fast filmreif ist schon die Entstehungsgeschichte des Buchs. Die zwölf Erzählungen von Pedro Almodóvar hatte seine Assistentin Lola García aus dem Chaos des Filmemachers über etliche Umzüge hinweggerettet und archiviert. Einige davon 50 Jahre lang. Die Assistentin gab den Anstoß für die Veröffentlichung. Eine „kryptische Autobiographie“ ist entstanden, sagt Almodóvar selbst im Vorwort.

Die Sammlung zeigt die enge Verbindung zwischen dem, was ich schreibe, was ich filme und was ich lebe.

Es sind mal mehr, mal weniger offensichtliche Wiedersehen mit Figuren, Konflikten und Fragen aus Almodóvars Schaffen. So erfindet er zum Beispiel in einer dieser Erzählungen 1979 die Porno-Darstellerin Patty Diphusa, die er später zur Heldin einer Kolumne macht – und die er eine zeitlang als sein Alter Ego empfindet. Er schreibt über toxische Beziehungen am Filmset, über einen lichtscheuen Grafen aus Transsilvanien und er wagt das Experiment, das Leben seiner Figur Miguel rückwärts zu erzählen.

Wenige Tage später steht seine Mutter aus dem Bett auf, ihr Bauch ist aufgebläht, weil Miguel sich darin befindet. Während der nächsten neun Monate wird Miguel nach und nach in ihr erlöschen.

Filmische Erzählungen

Auch wenn man einigen Geschichten das Suchen anmerkt und sie noch ein bisschen Feinschliff vertragen hätten – Almodóvar hat sie bewusst unverändert gelassen – so sind sie doch vor allem aufregend und berührend melancholisch. Entschlossen wechselt Almodóvar immer wieder den Fokus und hebt vermeintliche Randgeschehen, Nebenfiguren oder Hintergrundmusik plötzlich hervor. Da spüren wir den Filmemacher. Die Dialoge sitzen, das Setting auch. Etwa wenn zwei frustrierte Freundinnen beim Musikhören erkennen, dass unweigerlich ein Abschied bevorsteht…

Almodóvar lässt in dieser Geschichte Chavela Vargas singen. Er liebte die markante Stimme der Mexikanerin, machte sie in den 1990ern zur Interpretin seiner Soundtracks. In einem der vier autobiografischen Texte beschreibt er die Sängerin mit Worten, die auch viel über ihn selbst sagen – mit almodóvarschem Pathos übersetzt von Angelica Ammar:

Chavela Vargas hat aus Verlassenheit und Trostlosigkeit eine Kathedrale errichtet, in der wir alle Raum fanden und die man versöhnt mit den eigenen Fehlern verließ, bereit, sie weiter zu begehen, alles noch einmal zu versuchen.

Ein fein-komponiertes Buch mit zwölf Erzählungen

Überraschend gut weben sich die autobiografischen Texte in diese Reihe ein. Wir erleben Almodóvar also nicht nur als Erfinder pointierter, melodramatischer Geschichten, sondern auch als scheiternden Romanautor, als vereinsamten Misanthropen und – im stärksten, titelgebenden Text „Der letzte Traum“ – als Sohn, der um die verstorbene Mutter trauert. Sie hat ihr Geld als Briefevorleserin verdient und dabei stets eigene Passagen hinzugedichtet. Jede Wirklichkeit braucht Fiktion – das hat seine Mutter ihm mitgegeben:

Für einen Erzähler ist es eine zentrale Lektion. Mit der Zeit habe ich sie begriffen.

Ein fein-komponiertes Buch, das Selbstporträt und Sammlung von Erzählungen gleichzeitig ist. Und ein bisschen auch: Lebensfazit des Geschichtensuchers Pedro Almodóvar.

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