Buchkritik

Zeruya Shalev - Schicksal

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Mit „Schicksal“ hat Zeruya Shalev einen Roman über zwei Frauen in Israel geschrieben, deren Lebenswege auf historische, politische und familiäre Weise miteinander verbunden sind: Das Buch ist Klagegesang und Freiheitsdrama zugleich, im hohen Ton geschrieben, der aufs Ganze geht und einen erstaunlichen Lektüresog entstehen lässt.

Zeruya Shalev erzählt eine eine Familiengeschichte als Freiheitsdrama und Klagegesang

Wenig scheint dem Zufall geschuldet zu sein, in diesem Roman, der den Titel „Schicksal“ trägt. Die Frage, wie die Figuren sich zu ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Vorbestimmung verhalten, führt zum Kern einer Familiengeschichte, die Zeruya Shalev als Freiheitsdrama und Klagegesang gleichermaßen erzählt.

Mit 91 Jahren stirbt der jüdische Hirnforscher Meno Rubin in Tel Aviv. Auf dem Totenbett spricht er geheimnisvoll und zärtlich von einer Frau namens Rachel. Tochter Atara weiß zwar von einer ersten und schnell wieder aufgelösten Ehe des Sterbenden, über die Hintergründe der Trennung durfte im Elternhaus aber nicht gesprochen werden.

Tochter Atara sucht die Frau, von der ihr Vater Meno auf dem Totenbett spricht: Rachel

Da die mit den Jahren zunehmende Verbitterung des Vaters auch Ataras Leben auf schmerzhafte Weise geprägt hat, macht sie sich auf die Suche nach Rachel. Israel ist ein kleines Land, und mit Hilfe eines Privatdetektivs ist die Zielperson schnell ausgemacht.

Irgendwann steht sie vor Rachels Tür, aber ihr wird zunächst nicht aufgemacht, so wie vor siebzig Jahren auch Rachel nicht aufgemacht wurde, als sie vor Menos Tür stand, aber das wird Atara erst später erfahren.

Rachel und Meno waren Untergrundkämpfer gegen die britische Besatzung in Palästina

Die Geschichte von Meno und Rachel ist nämlich nicht nur die einer großen Liebe, sondern auch die einer Kränkung, die eng mit der gemeinsamen terroristischen Biographie verbunden ist. Denn Meno und Rachel kämpften in den 1940er Jahren gemeinsam gegen die britische Besatzung in Palästina, und ihr Leben im Untergrund war so bedrohlich wie faszinierend.

„Oft hatte man sie (…) morgens in irgendeine Wohnung gebracht, hatte ihr Tee, Brot und Oliven hingestellt und gesagt: Hier bleibst du bis zum Abend. Die Anspannung, die sie in den verschlossenen Zimmern erlebte, war weitaus größer, als was sie später bei ihren Operationen empfand. Selbst als sie immer wieder im Kinderwagen eine Babypuppe mit einer Bombe im Bauch durch die Straßen schob, hatte sie sich nicht so gefürchtet wie in diesen Zimmern. Doch manchmal war diese Angst auf wundersame Weise auch einem erhebenden Gefühl gewichen, als schwinge sich die Seele empor.“
Zeruya Shalev: Schicksal (S. 39)

Der Mufti von Jerusalem, ein islamistischer Nationalist, arbeitete mit dem NS-Regime zusammen

Meno und Rachel waren Mitglied der Lechi, einer zionistischen und antiimperialistischen Kampfgruppe, deren Existenz in Israel lange Zeit verwiegen wurde, was wohl auch daran lag, dass ihre Methoden sich von denen der palästinensischen Terroreinheiten nicht wirklich unterschieden.

1922 hatte der Völkerbund dem Vereinigten Königreich das Mandat über Palästina übertragen, was die Konfliktlinien noch verschärfte. Die britischen Besatzer setzten mit Mohammed Amin al-Husseini einen islamistischen Nationalisten als Mufti von Jerusalem ein, der schon bald mit dem NS-Regime zusammenarbeitete. Er war Mitglied der SS und sorgte dafür, dass zigtausend jüdische Kinder den Nazis ausgeliefert wurden.

Die Juden in Palästina mussten sich also sowohl gegen die britischen Okkupanten als auch die arabischen Antizionisten wehren

Die Juden in Palästina mussten sich also nicht nur den britischen Okkupanten, sondern auch den arabischen Antizionisten gegenüber zu Wehr setzen. Mit dem Ziel, den eigenen Leuten endlich mehr Sicherheit zu bieten, gründete sich in den jüdischen Siedlungen die Hagana, eine paramilitärische Organisation, die gegenüber der britischen Krone wiederum eine eher moderate Haltung einnahm. Was einige Mitstreiter nicht akzeptieren wollten.

So entstanden Terrorgruppen wie die Lechi, die sich „Kämpfer der Freiheit Israels“ nannten und mit Bombenanschlägen die britischen Imperialisten aus dem Land zu vertreiben versuchten. Dieser historische Stoff bietet bei Zeruya Shalev die Grundlage für einen Sündenfall, der die Figuren in „Schicksal“ über drei Generationen hinweg erschüttern wird.

Meno bricht auf rabiate Weise sein Liebesversprechen, das er Rachel gab

Meno bricht auf rabiate Weise sein Liebesversprechen, das er Rachel gab, um sich und auch der Mitstreiterin ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Nichts soll nach der Gründung Israels auf die Terrorvergangenheit der beiden hindeuten. Doch die Gewalt wird aus Menos Leben nicht verschwinden. Weder beruflicher Erfolg noch Familienglück werden die Brutalität des ehemaligen Bombenlegers einhegen. Vor allem Tochter Atara hat unter den Ausbrüchen des Vaters zu leiden.

„Ihre ganze Jugend hindurch musste sie die kahlen Stellen unter ihrem dunklen Haar verstecken, weiße Flecken der Erniedrigung und des Schmerzes, denn noch während sie in seinem Arm zappelte und versuchte, ihm zu entkommen, hatte er ihre Locken gepackt, und sie spürte, dass er gleich auch die Kopfhaut abreißen würde.“
Zeruya Shalev: Schicksal (S. 61)

Die Grausamkeit des Vaters hat verheerende Folgen für Atara

Atara wird die väterliche Grausamkeit überleben, doch die seelischen Verwüstungen haben verheerende Folgen. Als Architektin beschäftigt sie sich damit, alte Häuser zu restaurieren. Manchmal verspürt sie aber auch große Lust, das Bestehende niederzureißen.

Vielleicht ist das ein Grund, warum sie ihren ersten Ehemann Doron rücksichtslos betrügt. Sie wird mit dem ebenfalls verheirateten Alex schließlich durchbrennen, zwei Familien zerstören und sich ständig fragen, warum sie sich und den Kindern aus erster Ehe solche Schmerzen zufügt.

Immerhin, mit der Geburt eines gemeinsamen Sohnes, können Atara und Alex aufatmen. Das Kind der ursprünglich verbotenen Liebe heißt Eden, doch das Paradies ist weit entfernt.

„Erst nach Edens Geburt beruhigten sich ihre Schuldgefühle und die Wut; die Zweifel nahmen ab. Er war ihrer beider Talisman, die wunderbare Frucht ihrer Liebe und ihrer Enttäuschungen. Eden machte sie zu einer Familie, schweißte sie zusammen. Er machte Alex zum Vater ihres Sohnes, ein Titel, der ihm einen Vorteil vor allen anderen Männern auf der Welt verschaffte, und sie schwor sich, diesem Kind niemals die Erschütterungen zuzumuten, denen sie ihre Tochter ausgesetzt hatte.“ 
Zeruya Shalev: Schicksal (S. 70)

Ataras Sohn Eden wird durch seinen Einsatz als Elitesoldat depressiv

Aber auch Eden muss durch die Hölle gehen. Kaum dem Elternhaus entwachsen, soll er Elitesoldat werden. Doch der Einsatz in der Armee macht den jungen Mann depressiv. Atara ist in heller Aufregung, als sie vom Leiden ihres Sohnes erfährt. In langen, beschwörenden Sätzen beschreibt Zeruya Shalev das Seelenleben ihrer Figuren.

Die Schauspielerinnen Maria Schrader und Eva Meckbach haben den Roman elegisch und kontrastreich eingelesen. Während Rachel in der Hörbuchfassung angemessen nachdenklich auftritt, wirkt Atara angriffslustig und verletzt zugleich.

Ataras zweiter Mann Alex stirbt an einem dubiosen Magen-Darm-Virus

Tatsächlich versucht sie, wie es im Deutschen so schön heißt, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, sich abzusetzen von der väterlichen Prägung und bleibt doch gefangen in ihrem „Kindheitsgefängnis“. Zentrale Begriffe wie Schuld und Sühne, Verantwortung und Verrat tauchen immer wieder auf und bereiten leitmotivisch den großen Wendepunkt des Romans vor: Denn plötzlich erkrankt Alex an einem dubiosen Magen-Darm-Virus.

Atara nimmt die Schmerzen ihres Gatten, der sich gerne mal als Hypochonder aufspielt, nicht ernst. Sie fährt zu Rachel in eine „umstrittene Siedlung“, die – wie es im Roman heißt – „herrisch vom Berg aus regiert“, während Alex von seinem Sohn Eden in die Notaufnahme gebracht wird. Doch auch dort sind die Ärzte ratlos, der Mann will nach Hause und stirbt dann völlig überraschend.

Der Roman ist durch die vielen politischen und religiösen Verweise anspruchsvoll

Wieder hadert Atara mit ihrem Schicksal. Hätte sie den Tod verhindern können? Handelt es sich um eine Strafe, weil sie ihr „Ehegelübde an Doron gebrochen“ hat? Alles scheint in diesem Schicksalsroman mit allem zusammenzuhängen und dann wieder auch nicht. Es handelt sich um eine äußerst bedrückende Lektüre, die durch die vielen politischen und religiösen Verweise dementsprechend anspruchsvoll ist.

Leider wirkt die Übersetzung von Anne Birkenhauer an manchen Stellen deutlich zu altmodisch

„Hinter dem offenen Küchenfenster gewahrte sie den Schatten einer Bewegung, lautlos wie ein Augenzwinkern.“
Zeruya Shalev: Schicksal (S. 7)

Es scheint, als habe sich Birkenhauer zu sehr ans Original gehalten, näher jedenfalls als die Schriftstellerin Mirjam Pressler, die bis zu ihrem Tod 2019 die Werke Shalevs ins Deutsche übertrug. Pressler ging künstlerisch eigenständiger vor, und diese literarische Freiheit, die sich mit einer enormen Stilsicherheit verband, verlieh dem rauschhaft-künstlichen Sprachklang Shalevs eine moderne Note.

Der hohe und zugleich düstere Ton lässt einen erstaunlichen Lektüresog entstehen

Das Pathos der israelischen Autorin ist zuweilen kritisiert worden, doch gerade der hohe und zugleich düstere Ton ist in ihrem neuen Roman inhaltlich begründet und lässt trotz der zeitweise hölzernen Übersetzung einen erstaunlichen Lektüresog entstehen.

Zumal die Erzählfäden kunstvoll zu einem Textgewebe verflochten werden: In jeweils personaler Erzählperspektive werden die Lebensläufe Rachels und Ataras vorgetragen, sie überschneiden und ergänzen sich, um sich dann im Finale immer näher zu kommen.

„Schicksal“ ist ein Roman, der immer wieder auf die aktuellen Krisen in Israel verweist, auf den Alltag der Menschen in einem permanenten Konfliktgebiet, das sich auch als persönliches Schlachtfeld der traurigen Helden erweist.

Zeruya Shalevs neues Buch überzeugt in seiner ästhetischen Fülle und erschüttert mit berührenden Liebesabstürzen.

Gespräch Angekommen! Jüdische Autor*innen schreiben in Deutschland

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – das wird dieses Jahr gefeiert. Denn ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321 belegt, dass damals bereits Jüdinnen und Juden in Köln lebten. Trotz der schweren Pogrome zu Beginn des Ersten Kreuzzugs (1096), während der Pest (1349) und auch trotz des noch immer unfassbaren Holocaust im 20. Jahrhundert leben bis heute Jüdinnen und Juden in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten nimmt ihre Zahl sogar stark zu: durch den Zuzug osteuropäischer Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und auch weil Berlin bei Israelis besonders beliebt ist. Viele Autorinnen und Autoren sind darunter, und sie bereichern das literarische Leben in Deutschland. Der Kritiker Carsten Hueck kennt die Details.
Carsten Hueck freut sich auf den Roman „Schicksal“ von Zeruya Shalev, der Ende Mai im Berlin-Verlag erscheint, und empfiehlt:
Chaim Grade: „Von Frauen und Rabbinern“
Aus dem Jiddischen von Susanne Klingenstein, Die Andere Bibliothek, 44 Euro.
Tomer Gardi: „Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück“
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Droschl, 20 Euro.

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27.10.1988 Marcel Reich-Ranicki: Es gibt keine jüdische Literatur

27.10.1988 | Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki spricht im Interview über die Bedeutung jüdischer Schriftsteller für die deutschsprachige Literatur. | http://swr.li/reich-ranicki-literatur

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Carsten Otte