Buchkritik

Jean-Philippe Kindlers Buch „Scheiß auf Selflove“ – Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein

Stand
Autor/in
Philine Sauvageot

Er ist angetreten, um die Linke zu entlarven: Der 1996 in Duisburg geborene Satiriker Jean-Philippe Kindler beschreibt gerne, wo die Debatten innerhalb der Linken in die falsche Richtung gehen. Auch in seinem neuen Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf – Eine neue Kapitalismuskritik“ sammelt er die größten Widersprüche der Bewegung. Wer sich bei den Reizthemen Identitätspolitik oder Klimaschutz in Differenzierung üben will, sollte dieses Buch lesen, meint Philine Sauvageot.

Audio herunterladen (4,1 MB | MP3)

Abrechnung mit der eigenen Generation

Mit diesem Buch macht sich Jean-Philippe Kindler wohl bei niemandem beliebt. Erst recht nicht bei denen, die Achtsamkeit, Meditation und Yoga als Schlüssel zum Glück sehen. In seinem manifest-artigen Text „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ geht der 27-Jährige mit seiner Generation hart ins Gericht: Junge Menschen, auf den ersten Blick sprachsensibel, rassismuskritisch und umweltbewusst, schauten viel zu sehr auf sich selbst, anstatt die politischen Verhältnisse zu erkennen. 

Psychische Erkrankungen, Obdachlosigkeit oder Armut seien keine Einzelschicksale gestörter Individuen, sondern auch eine Folge unserer Arbeits- und Lebensweise. Darum müsse die Linke zum Antikapitalismus zurückfinden, überhaupt wieder radikaler werden und keine Verbote scheuen.

Niemand, wirklich niemand braucht SUVs, und dementsprechend kann man sie ohne jeden Zweifel verbieten. Warum? Weil in der Abwägung von gesellschaftlichen Freiheitsbedürfnissen die Existenz von SUVs schlicht und ergreifend unsinnig ist. Der SUV existiert nur, weil Menschen sagen: Ich will aber einen SUV haben. Das hat mit Freiheit nichts zu tun, sondern mit Quengeligkeit.

Politik entzieht sich der Verantwortung

Kindler ist Satiriker, aber solche Sätze, für einige sicher schwer auszuhalten, meint er ernst. Im wachstumsgetriebenen Kapitalismus, so Kindler, können wir die Klimakrise nicht lösen. Aber anstatt das System zu hinterfragen, werde die Schuld individualisiert, zum Beispiel über das vom Ölkonzern BP in die Welt gesetzte Konzept des CO2-Fußabdrucks.

Das ist die Hauptthese: Alle Lebensbereiche seien heute entpolitisiert. Der neoliberale Glaube an den sozialen Aufstieg durch Leistung sei selbst in linken Kreisen tief verankert. In dieser Logik ist jeder „selbst schuld“, wenn das Leben missrät, so als gäbe es Chancengleichheit. Mit dieser Erzählung ziehe sich die Politik aus der Verantwortung, anstatt allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Und in den Medien würden Armut und Reichtum unterkomplex diskutiert.

Ich persönlich warte ja schon seit einigen Jahren auf die Markus-Lanz-Sendung, in der die Frage formuliert wird, inwiefern eine leistungslose Erbschaft eigentlich dazu führt, dass die Leute zu Hause auf der faulen Haut liegen.

Wiederentdeckung der Klasse

Stattdessen fragen sich Linke, ob Weiße Dreadlocks tragen dürfen. Die Identitätspolitik habe wichtige Anliegen, aber Kindler erkennt sehr richtig: Die Selbstreinigung vom internalisierten Weiß-Sein ändert nichts daran, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein mehr als doppelt so hohes Armutsrisiko haben als der Rest der Bevölkerung.

Auch die Quote löst kein Problem: Die Welt ist keine bessere, wenn auch Frauen, Queere und People of Color in Machtpositionen kommen. Ausbeutung bleibt Ausbeutung.  

Kindlers Lösung ist die Wiederentdeckung der Klasse. Menschen sollten sich unabhängig von ihrer Herkunft oder politischen Einstellung als Schicksalsgemeinschaft verstehen, die ein ähnliches Leid teilt: Denn ein heterosexueller Cis-Mann kann zwar ein „alter weißer Mann" sein, aber eben auch nicht sehr privilegiert, wenn er zugleich von Bürgergeld in einer viel zu kleinen Hochhauswohnung lebt.

Es ist Ausdruck einer unsäglichen Arroganz, dass mittlerweile in vielen linken Kreisen die Auffassung herrscht, die deutsche Boomer-Bevölkerung habe erst mal alle neuen sprachlichen Codes zu lernen, bevor man sie in die eigenen Kämpfe mit einbezieht. Wenn Linke großen Wert auf Verbündetenschaft legen, dann muss die intellektuelle Leistung erbracht werden, dass man sich auch mit denjenigen zu verbünden hat, die einem vielleicht nicht jeden Dienstag im Judith-Butler-Seminar begegnen oder das Geld haben, sich im Coworking Space den großen Hafermilch-Cappuccino für fünf Euro zu leisten.

Kindler will sich für keine Seite entscheiden

Das wird manche enttäuschen: Kindler will sich für keine Seite entscheiden. Er gesellt sich weder zu den Woken noch zu den Anti-Woken. Er differenziert.

Am Ende verharrt dieses kluge Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein in der Kritik unserer Verhältnisse. Die konkrete Utopie von einer gerechteren Welt bleibt uns selbst überlassen. Wer bereit ist, sich in Differenzierung zu üben, sollte dieses Buch lesen.

Identitätspolitik Solidarität statt Genderklo – Braucht linke Politik eine neue Ausrichtung?

Die SPD hat den Fokus verschoben auf Identitätspolitik: Stolz verbuchte sie die Einführung der „Ehe für alle“ als ihre Leistung. Den gesetzlichen Mindestlohn winkte sie nur durch. Von Ingeborg Breuer

SWR2 Wissen SWR2

Gespräch Ständiger Zwang zur Selbstoptimierung? Juliane Marie Schreiber möchte lieber nicht

Gerade zum Jahresbeginn versucht man gerne, über gute Vorsätze das Beste aus sich rauszuholen. Für Juliane Marie Schreiber ist dieser ständige Zwang zur Selbstverbesserung ein „Terror des Positiven“. In ihrem Buch „Ich möchte lieber nicht“ fordert sie dazu auf, öfter auch mal Nein zu sagen.

SWR2 Matinee SWR2

SWR2 Wissen: Aula Der neue "woke" Kapitalismus – Eine Mogelpackung?

Der Begriff „woke“ bedeutet „erwacht, aufgewacht“ und wird oft mit Bewusstheit für soziale Ungleichheit gleichgesetzt. Und tatsächlich geben sich moderne Unternehmer nachhaltig, bunt, divers, international. Der Philosoph und Publizist Alexander Grau beleuchtet das Phänomen.

SWR2 Wissen SWR2

Rezension „Identitätspolitik“: Bernd Stegemanns misslungene Kritik an der Wokeness

Bernd Stegemanns Essay errichtet Strohmänner, kommt weitgehend ohne Belege aus und ist schlussendlich das, was er zu bekämpfen vorgibt: reiner Kulturkampf.

SWR2 am Morgen SWR2

Rezension Wütend auf den Kapitalismus: Neues Buch des US-Senators Bernie Sanders

In seinem neuen Buch „Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein“, betreibt US-Senator Bernie Sanders das, was man von ihm gewohnt ist: Kapitalismuskritik.

SWR2 am Morgen SWR2

Stand
Autor/in
Philine Sauvageot