Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familie
Es ist ihre eigene, fiktionalisierte Familiengeschichte, die Ika Sperling in einer Graphic Novel erzählt. In „Der Große Reset“ bebildert sie mit Aquarellfarben die Entfremdung einer jungen Frau von ihrer Familie während des Studiums und der Pandemiejahre – und wie sich der Vater in Verschwörungsmythen verliert.
Es geht so weit, dass der Vater im Buch auswandern und sich scheiden lassen will, seinen Job kündigt und das Haus verkauft. Die Familie droht zu zerbrechen.
Schweres Thema mit Leichtigkeit und Humor vermittelt
Entstanden ist „Der Große Reset“ auf der Suche nach einem Thema für Sperlings Bachelorarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Dort hat sie Illustration studiert. Die Geschichte spielt 2021 auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie.
Der Handlungsrahmen: Ein Heimatbesuch von Ika Sperlings Alter Ego Ika in einem deutschen Weinbaugebiet – inklusive Weinfest, Familienalltag und Dorfleben. Es wird geschwiegen und gestritten, doch die feinen Zeichnungen vermitteln auch Zärtlichkeit und Humor. Trotz des schweren Themas: „Der Große Reset“ kommt ohne moralische Verurteilungen aus.
Buch soll Trost spenden
Zeitweise leitet Ika Sperling sogar eine Selbsthilfegruppe für Betroffene mit Freunden oder Familienmitgliedern, die sich in Verschwörungserzählungen verloren haben. Doch das Buch soll kein Ratgeber sein – sondern ein persönlicher Erfahrungsbericht, der anderen Betroffenen Trost spenden und zeigen soll, dass sie nicht alleine sind.
„Ich glaube, die Arbeit an dem Buch war auf eine gewisse Art und Weise schon therapeutisch. Aber ich würde auch sagen, es ist nicht so, dass ich ein Buch schreibe und dann sind alle meine Probleme gelöst“, sagt Ika Sperling.
Wie reagiert die Familie auf das Buch?
Auch wenn „Der Große Reset“ ihre Geschichte ist: Die Figuren im Buch unterscheiden sich von den realen Vorbildern, tragen andere Namen, sind zum Teil stark verfremdet: Der Vater ist eine riesengroße Seifenblase.
„Mir war das wichtig, denn ich kann mir aussuchen, ob ich Teil dieser Geschichte sein will. Aber meine Familie kann das eben nicht“, sagt Ika Sperling. „Meine Mutter zeigt zum Beispiel ganz oft auf die Figuren in dem Buch und sagt: ‚So seh ich gar nicht aus‘, und ich sage immer: ‚Ja, das bist ja auch nicht du‘. Das ist eine Figur, die ist an dir angelehnt.“
Handlungsort: Weinbauregion in Rheinland-Pfalz
Autofiktional verdichtet, greift Ika Sperling zudem Klassenaspekte auf und die Entfremdung der Protagonistin von den Eltern und der Dorfkultur ihrer Jugend.
„Ich habe hier viel meiner Kindheit und Jugend rauchend in Weinbergshäuschen verbracht“, erinnert sich die Comicautorin. „Und so war das meistens der einzige Ort, wo man so hingehen konnte als jugendliche Person auf dem Land, die nicht zu Hause war und wo man ein bisschen Zeit verbringen konnte. Es war ein bisschen ein Zufluchtsort.“
Japanische Mangas als Rettung
Zuflucht findet sie als Jugendliche auch in Mangas und der Welt der Comics. Hier fühlt sich die Lesebegeisterte trotz ihrer Legasthenie wohl. Die Begeisterung für das grafische Erzählen führt Ika Sperling an das Landeskunstgymnasium Rheinland-Pfalz in Alzey.
"Und dann war eigentlich mein Schicksal besiegelt und ich wusste: Okay, ich will später irgendwas mit Kunst machen. Aber ich hab mich jetzt auch nie so als Künstlerin gesehen, vielleicht eher als Zeichnerin, das ist die bodenständigere Bezeichnung", so Sperling.
Vom Erfolg überrascht
2023 erhielt sie als erste Comic-Autorin ein Stipendium als Stadtschreiberin in Rottweil und wurde außerdem mit dem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. Die Graphic Novel ist so erfolgreich, dass es eine zweite Auflage geben wird.
Dabei war Sperling während des Studiums kurz davor, das Comic-Zeichnen aufzugeben und den Nebenjob in der Pflege in Vollzeit zu machen. Heute vermittelt sie den Spaß am Erzählen und Zeichnen auch in Workshops an Kinder und Erwachsene.
Neuer Comic in Arbeit
Ika Sperling hat aber noch mehr zu erzählen und arbeitet an einem neuen Projekt: Ein Comic über alternative Subkulturen, Jugend in den 2010er-Jahren und das Kulturzentrum Schlachthof in Wiesbaden. Die Protagonistin: Eine junge Frau mit Stoma, einem künstlichen Darmausgang.
„Es soll auch eine Figur sein, die viele Ähnlichkeiten mit mir hat, aber noch ein bisschen weiter weg ist. So interessant bin ich dann auch nicht, dass ich jetzt 10.000 Bücher über mich machen könnte“, sagt Ika Sperling. „Aber es soll auch ein Teil von mir drin sein. Den brauche ich einfach als Anker, um zu erzählen.“