Buchkritik

Han Kang – Griechischstunden

Stand
Autor/in
Katharina Borchardt

Sie spricht nicht mehr. Er kann kaum noch sehen. In den „Griechischstunden“ an einer Privatschule in Seoul lernen sie einander kennen.

Der neue Roman der südkoreanischen Autorin Han Kang löst schlichte Kausalitäten auf und erzählt in sich vernetzenden Motiven von Verlust und Einsamkeit, aber auch von Wandlung.

Können Griechischstunden heilsam wirken? Versperrte Seelentüren öffnen? Vor dem völligen Verstummen retten? Ja, das können sie – zumindest im neuen Roman von Han Kang. Darin verliert eine Koreanerin ihre Sprache. Kein Wort bringt sie mehr heraus.

Ein Psychologe meint, es läge daran, dass ihre Mutter kürzlich gestorben sei und dass sie das Sorgerecht für ihren 9-jährigen Sohn an ihren Exmann abtreten musste. Doch so einfach ist es nicht. Still war die Erzählerin immer schon.

Damals, als sie noch sprach, war ihre Stimme leise. Das lag nicht an ihren Stimmbändern und auch nicht an ihrer Lungenkapazität. Sie wollte einfach ihre Möglichkeiten nicht ausnutzen. Jeder Mensch füllt so viel Raum aus, wie es dem Volumen seines Körpers entspricht, aber die Stimme kann darüber hinausgehen. Sie jedoch wollte sich nie über ihre Grenzen hinweg ausbreiten.

Altgriechisch: eine Sprache ohne Sprechen

Auch Han Kang spricht selbst sehr leise. Wie schon in ihren früheren Büchern lotet sie in „Griechischstunden“ Seelenleben aus, erzählt von Erschütterungen, belässt Kausalitäten aber stets im Ungefähren.

Einen Druck, nach dem Erfolgsroman „Die Vegetarierin“ etwas Marktgängiges schreiben zu müssen, spürt man an keiner Stelle. „Griechischstunden“ ist vielmehr ein schwermütiges Buch, das millimeterweise von innerer Wandlung erzählt. Schon eine Weile verstummt, schreibt sich die Erzählerin geradezu intuitiv an einer Privatschule in Seoul für einen Altgriechisch-Kurs ein. Vielleicht sind es die fremdartigen Buchstaben, die lösend wirken. Oder das Wissen, dass Altgriechisch längst verklungen ist. Eine Sprache ohne Sprechen.

Die Erzählerin selbst mag vor allem eine zwischen Aktiv und Passiv liegende altgriechische Grammatikstruktur, die „Medium“ heißt und eine Handlung beschreibt, die vom Handelnden ausgeht und zugleich auf ihn zurückwirkt. Genau diese Erfahrung macht die Verstummte auch im Unterricht, der sie langsam wieder mit Worten in Kontakt bringt.

In keiner Sprache mehr zuhause

Für ihren Dozenten wiederum war das Altgriechische ein Netz, das ihn auffing, als er in keiner Sprache mehr zuhause war. Er wuchs in Korea auf, zog als Jugendlicher aber mit seinen Eltern nach Deutschland. Damals hatte er einen wiederkehrenden Traum.

In diesem Traum saß ich bei Sonnenuntergang in einem Bus, und die Zeichen, die ich durch die Fensterscheiben sah, konnte ich nicht einordnen, weder als deutsch noch als koreanisch. Daraufhin wollte ich sofort aussteigen, denn offensichtlich war ich hier falsch. Aber an welcher Station? Welchen anderen Bus musste ich nehmen, sollte ich überhaupt aus diesem herauskommen? Das Schlimmste war, dass ich mich nicht einmal erinnern konnte, wohin ich eigentlich wollte. So blieb mir nichts anderes übrig, als reglos hinten im Bus zu sitzen und auf die immer dunkler werdende Straße zu starren.

Platons Höhlengleichnis: Schatten und Sonne

Dunkelheit spielt für ihn eine besondere Rolle, denn er erblindet nach und nach. Auch deshalb spricht er im Unterricht gern von Platons Höhlengleichnis: Wie verlockend es wäre, nicht nur in der Höhle zu sitzen und die Schatten des Lebens zu beobachten, sondern direkt in die Sonne zu schauen.

Und wie verlockend auch, sich in einer realen Welt, die sich ihm verdunkelt, von den Realia ab- und Platons reinen Ideen zuzuwenden. Auch eine Art, sich vor der Welt zu verschließen. Darin ähneln sich Dozent und Schülerin, die übrigens beide in ihren 30ern sein dürften.

Mann ohne Augenlicht und Frau ohne Sprache

Die Einsamkeit der Frau wiegt hier stilistisch allerdings schwerer als die des Dozenten. Von ihr, die nicht mehr selber spricht, wird aus einer distanzierenden Sie-Perspektive erzählt, während der Dozent als ein Ich auftritt und auch längere Reden an die Menschen richtet, die ihm besonders fehlen: seine erste große Liebe, seine in Deutschland lebende Schwester und sein verstorbener bester Freund. Es ist fast ein Wunder, dass der Mann ohne Augenlicht und die Frau ohne Sprache einander näherkommen.

Es kam vor, dass sie sich gegenseitig beobachteten und auf den rechten Augenblick warteten. Während des Kurses. Während der Pause auf dem Gang, vor dem Verwaltungsbüro. Immer vertrauter wurde ihr sein Gesicht. Seine Narbe, seine übliche Gestik und Mimik wurden zu einer besonderen Narbe, einzigartiger Bewegung und individuellem Mienenspiel. Aber sie maß dem keine Bedeutung bei. Weil sie diesen Prozess noch nie in Sprache verwandelt hatte.

Mit Sprache entsteht Vereindeutigung. Was ein Handeln nach sich zieht. Was dann – wie im altgriechischen „Medium“ – auf die Figuren zurückwirkt. Tatsächlich führt Han Kang die kapitelweise getrennten Erzählstränge ihrer beiden Figuren schließlich zusammen, als der Dozent seine Brille verliert und seine Schülerin ihn nach Hause begleitet. So erleben die beiden etwas Verbindendes und erweitern damit ihrer beider Möglichkeitsraum.

Eine kaleidoskopartige Geschichte voll wiederkehrender Motive

„Griechischstunden“ ist keine kausalstringente, sondern eine eher kaleidoskopartige Geschichte, in der sich wiederkehrende Motive netzartig verbinden. Da gibt es Sprache und Stimme, Hell und Dunkel, Verlust und Heimatlosigkeit. Han Kangs Bücher wirken in aller Zartheit ja oft schmerzdurchsetzt und düster.

Und auch im neuen Buch sind Lehrer und Schülerin einsam und in ihrem Lebensradius quälend begrenzt. Der Umgang mit Sprache aber, der auch dieses Buch selbst ist, führt zu inneren Bewegungen, die schließlich öffnend wirken.

Insofern erzählt dieser Roman auch die Geschichte einer einsetzenden Wandlung, die weit über Willen und Entscheidung hinausgeht. Wer so feine und auch ein bisschen unabgeschlossene Geschichten mag, sollte sich „Griechischstunden“ buchen.

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