Dass das Bild, das wir uns von unserer Familie (und von unserm Land) machen, gern eine Lüge ist, ahnen wir ja zumindest und die meiste Zeit. Wie grausam diese Lüge in beiden Fällen sein kann, davon handelt Francesca Melandris "Alle, außer mir". Da steht ein junger Somali eines Tages in Rom – der Diktator Gaddafi besucht gerade den Medienmogul und Ministerpräsidenten Berlusconi – vor der Tür einer linksliberalen Lehrerin. Die hält ihn für einen Flüchtling. Er ist ihr Neffe. Er sucht ihren Vater.
"Alle, außer mir" ist die Geschichte der Suche nach den Spuren dieses Vaters, eines grandiosen Opportunisten, moralisch losen Frauenverschlingers und politisch flexiblen Vergangenheitsverschweigers. Allmählich setzt Melandri ein Mosaik zusammen.
Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, stellt sich gern selbst in Nestbeschmutzerverdacht. Mit Vorliebe hält sie sich – in ihren Romanen zumindest – da auf, wo sich in der jüngeren italienischen Geschichte sonst niemand aufhält, weil es weh tut. Ihr erster, nach einer sehr erfolgreichen Karriere als Drehbuchautorin 2010 erschienener Roman "Eva schläft" wirft Licht auf die Geschichte der Italianisierung Südtirols. Für "Über Meereshöhe", ihren zweiten von 2012, vergrub sie sich in die Geschichte der Roten Brigaden.
Die Recherche zu "Sangue giusto" (dt.: richtiges Blut), so der Originaltitel von "Alle, außer mir", soll gut zehn Jahre gedauert haben. So entsteht in tiefenscharf das Porträt einer Familie, über das sich die langen Schatten von Faschismus und Kolonialismus legen. Melandri findet die Spuren von Rassismus, von Fluchtursachen in der Geschichte, zeigt die Folgen der Flucht in der Gegenwart. Perfekt geschnitten ist das, grausam ist es häufig, was da hochgequirlt wird. Man lernt viel. Über ein seltsames Land namens Italien, das man noch nicht kannte – trotz Elena Ferrante.
Zur Autorin:
Francesca Melandri, geboren in Rom, hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern wichtiger Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman, "Eva schläft", wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman, "Über Meereshöhe", wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr drittes Buch, "Alle, außer mir", wurde für den Premio Strega nominiert.