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Dževad Karahasan – Einübung ins Schweben

Stand
Autor/in
Cornelia Zetzsche

Schon mehrfach schrieb Dževad Karahasanüber den Bosnienkrieg. "Tagebuch der Aussiedlung" hieß das Kriegstagebuch, mit dem er 1993 bekannt wurde. Nun, dreißig Jahre und einige Bücher und Preise später, erzählt er wieder von der Belagerung Sarajevos. "Einübung ins Schweben" heißt dieser meisterhafte Roman. Trotz allen Leids ein lebensfrohes Buch.

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Gibt es das? Ein lebensfrohes Buch über den Krieg? Einen poetischen Roman über Gewalt? Heitere Melancholie und Trauer in einem?

Dževad Karahasans „Einübung ins Schweben“ ist all das, eine wunderbare erzählerische Reflexion über das Wesen des Menschen. Ein langer Gang durch das belagerte, beschossene, zertrümmerte Sarajevo der 90er Jahre mit seinen Bewohnern, die im und am Krieg leiden und dennoch singen, tanzen, lieben und lachen.

Da ist Ibrahim, der Brunnenbauer, der in Reimen spricht; die junge Jasna heiratet ein blutiges Hemd, denn ihr Bräutigam fiel im Krieg. Und Šakir, der Lebenskünstler grüßt die Leute der Stadt. „Mein süßes Honigherz“, heißt Šakir den Erzähler willkommen, bevor ihn eine Granate zerfetzt, und Šakir als roter Blütenregen auf die Titostrasse herabfällt. „Sollen sie mein Lied ermorden?“, fragt die Sängerin und singt unter Granatenbeschuss weiter.

Sie alle trotzen dem Faktischen, überwinden die Schwerkraft und schweben wie profane Heilige in diesem betörend schwebenden Roman, immer etwas über dem Boden der Tatsachen. Die Nachbarn, die Junkies, der Rauch, alles schwebt. Auch Peter Hurd schwebt, im Wahn von Drogen und kühnen Thesen. Peter Hurd, der Altphilologe, der die griechische Tragödie liebt und selbst zur tragischen Figur wird; der nur für einen Vortrag nach Sarajevo kam und blieb, um seine Grenzen im Krieg auszuloten.

Ein Selbstversuch. „Welcome to hell“, sagt Rajko, der ihn aufnimmt; Rajko ist Peters Schüler, sein Gegenpol und der Erzähler des Buches. „Freie Menschen tragen ihre Grenze in sich und achten sie, weil sie sich selber achten“, theoretisiert Rajko und bleibt im Schutz der Bücher, während Peter draußen scheitert und mit ihm die abendländische Zivilisation, für die er steht. Peter wird zum Täter und Mörder, zum tragischen Fall von Entgrenzung.

Dževad Karahasan ist ein Erforscher der Grenze. Freiheit braucht Grenzen, lässt er Rajko sagen und dekliniert Begriffe wie Tradition, Moral, Scham, immer dem Wesen des Menschen auf der Spur. Und der Krieg hier ist die Entblößung des Menschen. In extremer Lage zeigt sich die Fratze der Gier und der Lüge, aber auch Solidarität, Mitgefühl und Weisheit. „Werden sie uns jemals das Böse verzeihen, das sie uns antun“, fragt Rajkos Mutter und ahnt, das Opfer hat keine Wahl, aber der Täter wählt das Böse und sucht die Schuld beim Gegenüber. Tief hinab in die Dantes Hölle steigen Peter und Rajko, sein Vergil, in ihren philosophischen Exkursen, der Rahmenhandlung des Romans.

Literatur ohne Philosophie ist für Dževad Karahasan nicht möglich. Er schreibt Literatur, die denkt. Als bosnischer Moslem, der bei Franziskanern zur Schule ging, bewegt er sich mühelos zwischen den Weltreligionen und kritisiert den Friedensvertrag von Dayton, der den Krieg beendete, aber die Spaltung der Ethnien zementiert. Anders als sein Sarajevo, wo die Toleranz der Religionen, Kulturen und Ethnien gelebt wurden, bis im Krieg gezielt Bibliotheken, Theater und die Universität zerstört wurden, um das Gedächtnis der Menschen auszulöschen. Der Mensch ist ein Wesen der Zeit, sagt Karahasan, wer seine Vergangenheit löscht, Menschen entwurzelt, ihre Identität zerstört, macht sie manipulierbar. Solche Worte und Bilder von der Belagerung Sarajevos, der Mut, der Überlebenswillen der Leute führen direkt zum Kriegsalltag der Ukraine heute.

„Einübung ins Schweben“ und sein Blick auf die Menschen ist universal und doch ganz in Sarajevo verankert. Vor dreißig Jahren schon skizzierte Karahasan erste Szenen im Versuch, dem Krieg das Lebensfrohe der Menschen entgegenzusetzen, erst jetzt war ihm dieser Roman möglich, ein Wunderwerk an Geschichten, eine Hommage an Sarajevo, an Menschen, die er kannte, und denen er mit diesem lebensklugen, bewegenden, meisterhaften Roman ein Epitaph schuf.

Übersetzt von Katharina Wolf-Grießhaber
Suhrkamp Verlag, 304 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-518-43122-1

Stand
Autor/in
Cornelia Zetzsche