Durs Grünbein lebt seit vielen Jahren in Berlin und Rom. Doch in seinen Gedichten, Essays, Notaten und in seiner Prosa kehrt er immer wieder zurück nach Dresden, wo er 1962 geboren wurde. Auch „Der Komet“, sein jüngster, autofiktionaler Roman, spielt in Dresden. Er erzählt von Dora W., seiner Großmutter, die als junge Frau nach Dresden ging, dort den aufziehenden Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Bombardierung Dresdens erlebte.
Grünbeins Großmutter und der Halley’sche Komet
In Durs Grünbeins Gedichtband „Äquidistanz“ aus dem Jahr 2022 ist in dem zeitdiagnostischen Gedicht „Messer im Hirn“ die Rede vom „politischen Rattenfraß“.
Das Erbe des Nationalsozialismus, die giftigen Wurzeln und Triebe des Antisemitismus werden in Grünbeins Werk immer wieder befragt - nun anhand der Geschichte seiner Großmutter Dora. Denn der Autor weiß, dass Geschichte aus Geschichten besteht, dass es gilt, sich den Erinnerungen auszusetzen, auch unzuverlässigen oder unliebsamen:
„Erinnerung, das ist kein Kuchen, den man in Ruhe backen kann. Eher ist es wie mit den Quallen im Meer, die plötzlich da sind, um einen herumschweben, den Schwimmer mit ihren Nesselfäden streifen, und dann wieder erscheinen sie in weiter Ferne, und man sieht zu, wie sie majestätisch dahinziehen, während man selbst umherirrt, richtungslos, in einem Element, in dem man nur um sein Leben schwimmend vorankommt und am Ende in diesem Ozean nicht einmal den kleinsten Fisch in der Hand hält.“
„Der Komet“ ist der Versuch, die Erinnerungen der Großmutter mit den eigenen zu verbinden und zu ergründen, wie durch Willkür und Gewalt ein Volk gleichgeschaltet werden konnte. Grünbein lässt seinen Erzähler aus der ersten Person sprechen, ihn ganz nah an die Großmutter herankommen, indem er ihre Sicht auf die Welt nachzuvollziehen versucht.
Parallel zur Erzählung von Doras Geschichte, geschieht eine Umdeutung: Vor Doras Geburt war im Jahr 1910 der Halley‘sche Komet aufgetaucht, der gemeinhin als böser Stern gilt, in der nördlichen Hemisphäre nur selten zu sehen. In „Der Komet“ wird er zu einem Sinnbild der zerstörerischen Macht des Nationalsozialismus.
Zwischen Kino und Katastrophe
Grünbeins Komet beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Großmutter liegt mit Scharlach in einem Dresdner Krankenhaus, die kleinen Töchter sind auf dem Land untergebracht, ihr Mann seit einem Jahr in Russland vermisst:
„Er war nun unerreichbar, war dort – auf der anderen Seite. Und das konnte vieles heißen: entweder gefangen in irgendeinem Lager, von Hunger und Typhus bedroht oder schlimmer noch – aber den Gedanken ließ sie nicht zu – gefallen. Den abscheulichen Euphemismus, der ihr nun täglich aus den Todesanzeigen entgegenschlug, fand sie immer besonders perfid.“
Die Struktur des Romans ähnelt der Kreisbahn eines Planeten. Vom Ende springt der Roman dann an den Anfang von Doras Geschichte zurück, um sich mit einigen Zeitsprüngen wieder dem Ende des Zweiten Weltkriegs anzunähern. Erzählt wird von Doras Aufwachsen auf dem Dorf in einer Bauernfamilie, die kurze Schulzeit, die Versprechungen der Moderne, die im malerischen und lebendigen Dresden viel schöner locken. Dora findet in der liberalen, unkonventionellen Trude eine enge Freundin. Mit ihr entdeckt sie, den kleinen Ladenmädchen von Siegfried Kracauer verwandt, das damals junge Kino – ein Medium, das auch den Autor Durs Grünbein extrem fasziniert.
Und Dora findet Oskar, den zehn Jahre älteren Schlachthofangestellten, der es später zum Meister bringen wird. Oskar, mit dem sie zunächst unverheiratet lebt, mit dem sie ihre beiden Töchter bekommt, ist, was man einen guten Mann nennt. Das Paar richtet sich in einem Mietshaus in Dresden ein. Parallel dazu weitet sich die nationalsozialistische Schreckensherrschaft aus:
„Vom Boykott jüdischer Firmen in der Provinzstadt hatte sie manches mitbekommen, auch einmal Schaufenster gesehen, die mit weißer Farbe beschmiert waren: Juden unerwünscht. Handlungsreisende berichteten von den Schwierigkeiten, die ihnen gemacht wurden, wenn sie es wagten, weiterhin jüdische Geschäfte zu beliefern. Und nach der Wiederwahl Hitlers war alles noch schlimmer geworden. Jüdische Arztpraxen wurden geschlossen, Schilder mit den Namen jüdischer Notare und Rechtsanwälte verschwanden, aus Breslau hörte man Horrorgeschichten von Hausangestellten, die ihre Stellung bei Juden aufgeben mussten.“
Umso lauter die nationalsozialistische Propaganda aus den Volksempfängern brüllt, umso stummer werden die Menschen in Doras Umfeld, wird sie selbst. Das Übrige tut dann der Krieg, der Oskar an die Front holt, die Lebensbedingungen der Daheimgebliebenen verschlechtert, den Antisemitismus in die Perversion der sogenannten Endlösung, dem Plan zur Vernichtung der Juden steigert.
Die Heldin mag man, aber sie ist eine Mitläuferin
Grünbeins Erzähler gelingt es, sich Dora so zu nähern, dass bei aller Einfühlung in die skeptische Mitläuferin doch genügend Distanz zu ihr bleibt. Man erkennt, wie die Mischung aus Aufstiegswunsch, Naivität, Verunsicherung, Verschweigen und Gleichgültigkeit den fruchtbaren Boden für das nationalsozialistische Regime mitbereitet haben. Dora zu mögen, und man wird sie sehr mögen, heißt hier nicht, sie zu entschuldigen, weder für den Erzähler, noch für den Leser.
Angst und ein unkritisches, unaufgeklärtes Denken tragen dazu bei, Willkür und Gewalt zu dulden. Das manifestiert sich im Roman im Bild des Halley’schen Kometen, der 1910 am Himmel zu sehen war:
„Eine Welle der Hysterie war damals durch Europa gegangen, nicht wenige waren in Erwartung des Weltenendes erstarrt: dass der Schweif des Kometen die Erde berühren und ganze Städte in Brand setzen würde. Eine schlagartige Erderwärmung, ein Kontinente übergreifender Hitzeschock war die Vision.“
In der Bombardierung Dresdens erfüllt sich mehr als drei Jahrzehnte später die Phantasie der kollektiven Kometen-Hysterie auf andere als schicksalhafte Weise. Die Katastrophe ist hier keine planetarische Bewegung. Die Zerstörung der Welt erscheint in „Der Komet“ als menschengemacht.
Grünbeins erschütternde literarische Imagination der Bombardierung Dresdens am Ende dieses lesenswerten, mit etlichen Fotos aus der Zeit collagierend ergänzten Romans macht klar: ein schicksalhaft vorgestelltes höllisches Inferno, ist unter dem nationalsozialistischen Terror zum kalkulierten und von allen mitgetragen geworden.
Zwar wird Dora, anders als so viele, das so genannte Dritte Reich überlebt haben, unversehrt bleibt sie so wenig wie ihre Kinder und Kindeskinder. Deutlichere Spuren der Versehrung hätte man sich in der Sprache des Romans gewünscht. Stets bleibt sie fein, poetisch, hoch differenziert, wenig bruchlos und letztlich so schön, dass sich Doras Geschichte fast ein wenig wie ein Märchen ausnimmt. Das aber durchkreuzt den kritischen und klugen Anspruch dieses Erzählers.
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Buchkritik Durs Grünbein - Äquidistanz
Poetisch-historische Gedichte – so wurden Durs Grünbeins lyrische Texte einmal bezeichnet. Auch in seinem jüngsten, zwölften Gedichtband „Äquidistanz“ reist der Poeta doctus nicht nur durch die Welt, sondern vor allem in die Vergangenheit, um etwas über die Gegenwart zu erfahren. | Rezension von Ulrich Rüdenauer.
Suhrkamp Verlag, 183 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-518-43098-9