Das Nibelungenlied – eine Schatzgrube, in der seit rund 700 Jahre nach seinem Entstehen immer noch geschürft wird. Das Epos um Gold, Liebe, Verrat und Mord hat auch Büchnerpreisträgerin Felicitas Hoppe zu einer Neuerzählung inspiriert. Intelligent, verspielt und mit feiner Ironie.
Felicitas Hoppe spielt auf listige Weise mit der Heldenverehrung in Fritz Langs Stummfilm
Wer sich mit den Figuren des neuen Romans von Felicitas Hoppe auf große Fahrt begibt, von Worms aus den Rhein und die Donau entlang, bis ins heutige Ungarn, der sieht sich schnell verstrickt in ein Netz aus Zeichen und Verweisen.
Schon der Titel legt eine Fährte: „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“. Eine Referenz also nicht etwa an Richard Wagners Oper, sondern an Fritz Langs Filmepos von 1924. Künstlerisch ein Meisterwerk, ideologisch eine fragwürdige Wiederanknüpfung an vermeintliche Heldentraditionen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Felicitas Hoppes Neuerzählung des Nibelungenstoffes spielt nun auf listige und anspielreiche Weise mit dieser Heldenverehrung, die sie keineswegs für erledigt hält.
Im Vordergrund steht die immerwährende, unheilvolle Verlockung des Goldes bzw. des Kapitals
Kurze Erinnerung an den mittelalterlichen Urstoff: Siegfried, kampferprobter Königssohn aus Xanten, im Besitz des Nibelungenhorts, verhilft dem Burgunderkönig Gunther zur Heirat mit Brunhild und vermählt sich selbst mit Gunthers Schwester Krimhild. Als es nach Jahren zum Streit zwischen den Frauen kommt, bahnt sich eine Katastrophe an: Hagen, ein Gefolgsmann Gunthers, ermordet Siegfried und versenkt den Nibelungenhort im Rhein.
Nur sind aber bei Felicitas Hoppe die Gewichte etwas anders verteilt, um den alten Stoff in ein neues Licht zu rücken. Natürlich bevölkert auch sie ihren Nibelungen-Roman mit dem altbekannten Figuren-Ensemble. Aber auffällig ist doch, dass sie nicht Siegfried, Krimhild, Brunhild oder Hagen den Vortritt lässt, sondern dem ganz offensichtlich unerreichbaren Objekt ihrer Begierde: dem Schatz, bezeichnet als „Die goldene Dreizehn“, eine märchenhafte Metapher für ein Objekt, das alle begehren – auch um den Preis des Untergangs.
Im Vordergrund steht also die immerwährende, unheilvolle Verlockung des Goldes. Oder zeitgemäßer ausgedrückt: des Geldes, des Kapitals. Bei Hoppe verpackt in eine doppelbödige Inszenierung.
Hoppe bringt die Wormser Nibelungen-Festspiele und Quentin Tarantino zusammen
Und die geht so: Auf dem Domplatz zu Worms präsentiert eine sehr heutige Schauspieltruppe das Nibelungenlied als Theateraufführung. Ein Verweis auf die alljährlichen Nibelungen-Festspiele in der Domstadt, 1937 während der Nazizeit ins Leben gerufen, 2002 wiederbelebt.
Hoppe präsentiert nun das Geschehen auf der Drehbühne wie eine Mischung aus Volksfest und Groteske. Eine Frau Kettelhut führt Regie. Der Männerchor Worms-Pfifflingheim sorgt für die musikalische Untermalung, Mitglieder des Wormser Ruderclubs Blau-Weiss schlüpfen in die Rollen der Höflinge, Hunnen und Vasallen.
Die Dramaturgie, so lesen wir im Abspann, liegt in den bewährten Händen von Quentin Tarantino. Köstlich, dieses kleine Schlaglicht auf den Regisseur u.a. des martialischen Actionfilms „Kill Bill“. Das Publikum auf dem Domplatz ergötzt sich am Spektakel und schreit danach, den Schatz, in der Figur eines eher glanzlosen Krüppels, endlich dingfest zu machen.
„(…) das Wormser Publikum geht inzwischen aufs Ganze, droht mit den Schirmen, grölt nach dem Schwert und gerät dabei fast wie von selbst ins Schunkeln. Was Die Goldene Dreizehn wenig beeindruckt, schließlich war sie im Krieg und ist eine von ihnen; ein Held aus dem Volk, der sich nicht nach Blut, sondern nach Bratwurst sehnt. Und so sitzt sie auch da: in der Linken die Krücke, in der Rechten die Flasche, der letzte Nibelunge auf seinem letzten Bein, der weder den Tod noch das Publikum fürchtet, weil er, wie alle Sänger und Schätze, nur auf der Durchreise ist.“
(Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm)
Im Boot fährt der Tod mit „ein Laie aus Worms, in einem billigen Trainingsanzug von Woolworth“
Eine Reise, die nie endet, weil das Lied vom Nibelungenschatz auch an König Etzels Hof nicht ausgesungen ist. Und so dreht sich die Bühne wie eine märchenhafte Zeitmaschine weiter. Vorangetrieben von einer Erzählstimme, die man im Abspann als Zeugin, Beobachterin wie Drehbuchschreiberin des Geschehens identifizieren kann und die sich Felicitas Hoppe nennt.
Die Autorin setzt diese Zeugin des Geschehens in ein Beiboot, dem Rheinverlauf folgend und mit einem Fernglas die Reise der Burgunder Richtung Hunnenland kommentierend. Eine Truppe, die Krimhilds hinterlistigem Versprechen auf Versöhnung mit ihren Brüdern vom Königshof in Worms und auf noch noch größere Schätze nicht widerstehen kann. Mit im Beiboot zwei Spielleute und der Tod, „ein Laie aus Worms, in einem billigen Trainingsanzug von Woolworth“, wie es heißt.
Die Erzählerin interviewt die Darsteller in den Pausen des Wormser Bühnenstücks
Zu den genialsten Schachzügen in diesem Text gehören die Interviews, die die Erzählerin in den Pausen des Wormser Bühnenstücks mit den Darstellern in ihren Umkleidekabinen führt. Eine weitere Brechung des Mythenstoffs.
Denn Hoppe lässt sie zu ihren Rollen, sowie zu der Spielbarkeit des Heldenepos in heutiger Zeit und zu seiner Aktualität Stellung nehmen. Wunderbar witzige Dialoge sind das, zum Beispiel mit dem Darsteller von Zwerg Zorn, dem einstigen, von Siegfried wegen seiner Tarnhaut gehäuteten Schatzhüter. Auf seine Rolle als Zwerg angesprochen, antwortet er:
„Rein literarisch betrachtet ist er nichts als eine Allegorie. Dagegen chemikalisch betrachtet, ein gefährlich ungesättigter Rest. Denn besehen bei Grubenlicht ist seine Rolle die gefährlichste von allen, Gewinner und Verlierer in einer Person, weil er hütet und verliert, was wir nicht haben und trotzdem wollen.
Frage: Hat das alte Drehbuch also längst seine Macht verloren? Antwort: Ja und nein. Bei Licht besehen waren die Zeiten für die Nibelungen nie besser als heute, die Zuschauer sind ja verrückt nach Mythen.“
(Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm)
Und so lässt Felicitas Hoppe jede Figur des großen Spektakels durch diese doppelte Darstellung und diesem unentwegten Spiel aus Nähe und Distanz märchenhaft fern und dann doch wieder unheimlich vertraut erscheinen.
Das Nibelungen-Epos, ein Stoff, der nicht ruht, sich jeder Eindeutigkeit entzieht und doch etwas ins sich birgt, „was wir nicht haben und trotzdem wollen“, wie der Zwerg, der einstige Hüter des versunkenen Schatzes, sagt.
Burgunder und Hunnen gehen in einer Tortenschlacht unter
Auf der Wormser Bühne wird der Untergang der Burgunder und Hunnen als Abendmahl mit 12 Protagonisten inszeniert, die sich nach Erscheinen der Goldenen Dreizehn – in einer Tortenschlacht den Garaus machen. Rettung ist nicht in Sicht. Daran kann auch die Drehbuchschreiberin Hoppe in diesem Roman nichts ändern.
„Genauso todsicher ist allerdings auch, dass sich nichts davon ernsthaft beschreiben lässt, weder damals noch heute; weder das Weinen und Klagen noch diese unappetitliche Mischung aus Salz und Blut, die ihre frisch gebügelten Taschentücher für immer daran zu hindern versucht, endlich befreit gen Himmel zu fliegen; weil es in dem ganzen entsetzlichen Stück nicht eine einzige lebendige Seele gibt, die darauf aus wäre, wirklich gerettet zu werden, weil sie es vorzieht, ihrem Untergang treu zu bleiben.“
(Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm)
Am Schluss bleibt nur die Klage. Die Bühne jedoch dreht sich weiter. Und auch die Schatzsucher sind immer noch unterwegs. Felicitas Hoppe hat der Strahlkraft dieses Mythos eine politische, wenn man will kapitalismuskritische, gleichzeitig aber auch ungemein unterhaltsame Deutung hinzugefügt – voller sprachlicher Raffinesse, Witz, Verspieltheit und feiner Ironie.