Wenn die Sprache versagt, braucht man neue Wege, wieder zu ihr zu finden. Miteinander zu sprechen ist für Delphine Horvilleur eine Möglichkeit, das Schweigen zu überwinden, dass sich bei vielen Jüdinnen und Juden nach den Ereignissen des 7. Oktober 2023 eingestellt hat. In „Wie geht’s? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober“ nähert sich die Pariser Rabbinerin verschiedenen Gesprächspartnern – fiktiven und realen –, um zu klären, was fragwürdig geworden ist seit dem vergangenen Herbst. Ihr Buch ist eine ebenso einfühlsame wie konsequente Analyse der aktuellen Situation von Jüdinnen und Juden nicht nur in Frankreich.
Am Anfang war… das Wort. Delphine Horvilleur zeigt in ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch, wie die Sprache wiederzugewinnen ist, wenn etwas einem die Sprache verschlagen hat. Etwas – das ist der größte und brutalste Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah am 7. Oktober des vergangenen Jahres.
Es sind indes nicht nur die Ereignisse an diesem schrecklichen Tag, die der Autorin die Sprache zu nehmen drohten. Unmissverständlich geht die Pariser Rabbinerin, die als Repräsentantin des liberalen Judentums in Frankreich gilt, auf das ein, was nach dem 7. Oktober passierte – und immer noch passiert: Den einen verschlägt es vor Entsetzen die Sprache – den anderen wird ihre Sprache zu einem wohlfeilen Mittel der Relativierung:
Durch dieses ABER und unter dem Vorwand einer Kontextualisierung wird das Grauenhafte relativiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Dabei lässt die Autorin keinerlei Zweifel daran, dass sie seit Jahren für die Rechte der Palästinenser und für eine Zweistaatenlösung eintritt. Und genauso unmissverständlich macht sie im Kapitel ‚Gespräch mit Israel‘ ihre Kritik an der Politik der Machthybris der amtierenden israelischen Regierung deutlich.
Ein Land, das Sicherheit verspricht
Aber an solchen Differenzierungen seien notorische Antisemiten gar nicht interessiert; das Muster, nach dem ‚der Jude‘ an allem Übel dieser Welt schuld sei, wiederhole sich immer wieder aufs Neue – wie ihre Großmutter im erinnerten ‚Gespräch mit den Großeltern‘ resigniert feststellt: „Was geschehen ist, wird immer wieder geschehen. Die Vergangenheit vergeht nie.“
Die Vergangenheit, das ist die Jahrhunderte und Jahrtausende alte Verfolgung der Jüdinnen und Juden, vor der sie nichts schützt – auch nicht die Integration in ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, und das man deshalb liebt: Hier spricht Delphine Horvilleur mit und von ihrem Großvater, diesem perfekt assimilierten Juden, der Frankreich unendlich dankbar war.
Antisemitismus und Antirassismus
Eine Angst, die sich in der Geschichte allzu oft als berechtigt erwies.
So tastend Delphine Horvilleur aus der Sprachlosigkeit in die Sprache zurückzufinden sucht, so analytisch klar ist sie im Kapitel ‚Gespräch mit einem Antirassisten‘; dessen Haltung lasse sich – und das sei das Neue nach dem 7. Oktober – perfekt mit dem Antisemitismus kombinieren: Judenhass, der alles durcheinanderwirft – jüdische Geschichte, jüdische Religion, Israel und seine derzeitige Regierung – Judenhass könne sich antirassistisch gerieren und als Engagement für die Seite der Schwachen, der Opfer und Verwundbaren.
Oder ist der Antisemitismus ein Aufstand gegen die Ursprünge, gegen die Anfänge der eigenen Religion, ja Kultur, die sich der älteren verdankt – und dies nicht will?
So kommentiert Delphine Horvilleur mit einer Prise Sarkasmus.
Im Kapitel ‚Gespräch mit denen, die mir guttun‘ schildert sie ihre Begegnungen mit dem libanesischen Autor und Filmemacher Wajdi Mouawad, die zeigen, dass Brücken und Verständigung zwischen Juden und Moslems möglich und bereichernd sind.
„Weißt Du, dass man da, wo ich aufgewachsen bin, alle Araber, die eigenständig denken wollen, als Juden bezeichnet?“, sagt ihr in einem anderen Gespräch der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud.
Sprechen in Zeiten des Krieges
Die zehn Kapitel dieses Buchs tragen jeweils die Überschrift ‚Gespräch mit…‘ und weisen auf den Weg zurück in die Sprache, die am 7. Oktober des vergangenen Jahres verloren zu gehen drohte. In ihrem Buch zeigt Delphine Horvilleur, wie wichtig die Sprache in Zeiten des Krieges der Waffen und Worte ist: Am Anfang, berichtet die Bibel, wurde die Menschheit gleichzeitig mit dem Tierreich erschaffen. Und dahin kehrt sie wieder zurück, sobald sie nicht mehr benennen kann, was ihr widerfährt.
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