Ein persönliches Werk, das von Herkunft, Begegnungen und Moral handelt
Der 1964 geborene Rechtsanwalt, Schriftsteller und Dramatiker Ferdinand von Schirach ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Die Bände mit Kurzgeschichten, in denen Schirach verfremdete Fälle aus seiner eigenen Anwaltspraxis erzählt, verkaufen sich in Millionenauflagen.
Sein Theaterstück "Terror" wurde allein in Deutschland seit 2015 mehr als tausend Mal aufgeführt und wird mittlerweile weltweit gespielt.
Nun hat Ferdinand von Schirach mit "Kaffee und Zigaretten" ein neues Buch veröffentlicht. Es ist sein bislang persönlichstes Werk geworden. In 42 Kapiteln erzählt er von seiner Herkunft, von prägenden Begegnungen und Ereignissen, die er in sein moralisches Koordinatensystem einordnet.
In den kurzen Episoden hat das Buch seine stärksten Momente
In der Kantine eines Krankenhauses ist das Essen für das Personal vergünstigt. Ein Mann im weißen Kittel, den die Kassiererin noch nie zuvor gesehen hat, verlangt an der Kasse den ihm vermeintlich zustehenden Rabatt.
Die Kassiererin kennt ihn nicht. Er halte hier an der Klinik einen Vortrag im Fachbereich Urologie, behauptet der Mann. Die Kassiererin weiß aus Erfahrung, dass Insassen der psychiatrischen Abteilung sich gerne als Ärzte ausgeben. Sie beugt sich nach vorne, sieht, dass der Mann Hausschuhe trägt, und verlangt den vollen Preis; der Mann geht wütend weg. Ein Fall, der am Ende des Tages noch eine unerwartete Wendung nimmt:
In Geschichten wie diesen, noch nicht einmal zwei Druckseiten lang, hat das neue Buch von Ferdinand von Schirach seine stärksten Szenen. Hier fällt die Irritation des Augenblicks zusammen mit einer komischen Pointe und einer nicht explizit formulierten moralischen Erfahrung.
Loslösen von der dunklen Familiengeschichte
Doch die kleine Episode ist nicht repräsentativ für die 42 kurzen Kapitel von "Kaffee und Zigaretten". Schirach schreibt so offen autobiografisch wie selten zuvor. Es wäre gelogen zu behaupten, die Erinnerungen an seine Jugendzeit und die Ausführungen über seine familiäre Herkunft übten nicht einen großen Reiz aus.
Was Schirach in diesem Buch unter anderem versucht, ist die Rekonstruktion der Entstehung eines moralisch gefestigten und philosophisch gebildeten Individuums aus einer unglücklichen oder auch unseligen Familiengeschichte.
Schirachs Großvater sah in der Deportation der Juden "aktiven Beitrag zur europäischen Kultur"
Immer wieder sucht Schirach Analogien zwischen dem aktuellen tagespolitischen Geschehen und historischen Ereignissen. Er zitiert seinen Großvater Baldur von Schirach, der die Deportation der Juden aus Wien im Jahr 1942 einen "aktiven Beitrag zur europäischen Kultur" genannt hatte und charakterisiert seine eigene Entwicklung als eine von Wut und Scham angetriebene Gegenbewegung.
Ein missglückter Selbstmord wird zum Glücksfall
Zu Beginn des Buchs begegnen wir allerdings einem jungen Menschen, der noch nicht einmal "Ich" sagen kann. Der Vater stirbt, als der Junge 15 Jahre alt ist. Einige Wochen nach der Beerdigung betrinkt der Junge sich auf dem elterlichen Anwesen mit Whiskey, holt ein Gewehr aus dem Waffenschrank und betritt den parkähnlichen Garten:
Dass der Junge in seinem Zustand vergessen hatte, das Gewehr zu laden, betrachtet auch er im Nachhinein als glückliche Wendung.
Schirachs Herkunft ist gleichermaßen Fluch und Segen
Wir lernen den Autor als einen Menschen kennen, der zum einen unter der Last seiner Herkunft leidet, deren Privilegien aber auch gleichzeitig ausnutzt, um sie als Basis für eine richtige, im Sinne einer höheren Moral gerechtfertigte Existenz zu verwenden.
Den Schriftsteller Lars Gustafsson lädt Schirach nach einer Lesung aus dessen Roman "Der Tennisspieler" zu einem Match auf den Privatcourt der Familie ein. Anschließend sitzt man am Swimmingpool bei Eistee, und Gustafsson stellt die These auf, dass ein gelungener Aufschlag beim Tennis genauso kompliziert sei wie die Antwort auf die Frage nach einem gelingenden Leben.
Schirach zeichnet ein Selbstporträt in Variationen
Schirach zeigt sich als Heimatlosen und Reisenden, als grübelnden Melancholiker und Leser, als erfolgreichen Rechtsanwalt, der von der Frage angetrieben ist, wie das Böse in die Welt kommt und welche Ausdrucksformen es sich suchen kann. Die Reflexion der eigenen Befindlichkeit gerät Schirach dabei weniger überzeugend als die Beobachtung seiner Umwelt.
Der ungarische Literaturnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Imre Kertész, dem das Konzentrationslager die Jugend und sämtliche Illusionen genommen hat, hatte über Schirachs Berliner Kanzlei eine Wohnung.
An Kertész' Todestag erinnert Schirach sich an einen Abend, an dem er unangemeldet bei Kertész klingelte. Kertész öffnete ihm elegant gekleidet, im Hintergrund war der Tisch fein gedeckt. Nein, er erwarte niemanden, sagte Kertész, er mache das jeden Abend so. Schirach schreibt:
Genaue Beobachtungen treffen auf Banalitäten
In Momenten wie diesen erweist sich Schirach als ein genauer Beobachter, der prägnant, treffend und wahrhaftig formulieren kann. Es steckt in der Logik der Form einer Sammlung von verstreuten Notaten, dass sich dazwischen aber auch eher seichte Stücke finden lassen.
Wenn Schirach sich konsumkritisch und kulturpessimistisch gibt, gerät er nicht selten in banale Regionen. Dass es bedauerlich ist, dass erwachsene Menschen lieber im noblen Papierladen Geld für Ausmalbücher ausgeben als für das neue Buch von David Foster Wallace in der Buchhandlung nebenan, ist sicher richtig. Für wohlfeil konsensfähige Feststellungen dieser Art gibt es allerdings den Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Der Versuch, die Beobachtungen mit Substanz anzureichern, gelingt nicht immer
Überhaupt hat Schirach die Neigung zum Naheliegenden, vor allem aber auch zur Überdeterminierung. Kleist und Hemingway, Platon und Aristoteles, Kant und Nietzsche werden ein wenig vorsätzlich aus dem bildungsbürgerlichen Repertoire hervorgezogen, um alltägliche Beobachtungen mit Substanz anzureichern und dadurch als exemplarisch darzustellen.
Und auch Schirachs allgemeine Überlegungen zum Weltenlauf klingen hin und wieder wie die Philosopheme eines pensionierten Oberstudienrats:
Sachlich erzählte Anekdoten sind Stärke des Romans
Spaß macht "Kaffee und Zigaretten", wenn Schirach in seinem betont sachlichen, kühl gehaltenen Stil Anekdoten erzählt. Wenn er aber auf dem schmalen Grat zwischen dem Pathos der sprachlichen Kargheit und der Suche nach existentieller Erkenntnis wandelt, stürzt er auch gelegentlich ab.
Trotzdem: Der Einblick in das Schirach'sche Universum, in eine Mischung aus Herkunft, Sehnsucht nach Erlösung und Traurigkeit, hat auch immer wieder etwas Faszinierendes.