SWR2 Buch der Woche vom 03.03.2019

Kaffee und Zigaretten - Erzählungen

Stand
Autor/in
Christoph Schröder

Bestsellerautor Ferdinand von Schirach hat mit "Kaffee und Zigaretten" einen sehr persönlichen Erzählband vorgelegt. In 42 Kapiteln erzählt er von seiner Herkunft, von prägenden Begegnungen und Ereignissen, die er in sein moralisches, durchaus bürgerliches Koordinatensystem einordnet.

Das überzeugt, wenn Schirach in seinem betont sachlichen, kühl gehaltenen Stil Anekdoten erzählt, in einem Tonfall, der von Sehnsucht nach Erlösung und Traurigkeit geprägt ist und immer wieder fasziniert.

Ein persönliches Werk, das von Herkunft, Begegnungen und Moral handelt

Der 1964 geborene Rechtsanwalt, Schriftsteller und Dramatiker Ferdinand von Schirach ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Die Bände mit Kurzgeschichten, in denen Schirach verfremdete Fälle aus seiner eigenen Anwaltspraxis erzählt, verkaufen sich in Millionenauflagen.

Sein Theaterstück "Terror" wurde allein in Deutschland seit 2015 mehr als tausend Mal aufgeführt und wird mittlerweile weltweit gespielt.

Nun hat Ferdinand von Schirach mit "Kaffee und Zigaretten" ein neues Buch veröffentlicht. Es ist sein bislang persönlichstes Werk geworden. In 42 Kapiteln erzählt er von seiner Herkunft, von prägenden Begegnungen und Ereignissen, die er in sein moralisches Koordinatensystem einordnet.

In den kurzen Episoden hat das Buch seine stärksten Momente

In der Kantine eines Krankenhauses ist das Essen für das Personal vergünstigt. Ein Mann im weißen Kittel, den die Kassiererin noch nie zuvor gesehen hat, verlangt an der Kasse den ihm vermeintlich zustehenden Rabatt.

Die Kassiererin kennt ihn nicht. Er halte hier an der Klinik einen Vortrag im Fachbereich Urologie, behauptet der Mann. Die Kassiererin weiß aus Erfahrung, dass Insassen der psychiatrischen Abteilung sich gerne als Ärzte ausgeben. Sie beugt sich nach vorne, sieht, dass der Mann Hausschuhe trägt, und verlangt den vollen Preis; der Mann geht wütend weg. Ein Fall, der am Ende des Tages noch eine unerwartete Wendung nimmt:

Nach ihrer Schicht sieht sie in der Haupthalle auf einem Bildschirm das Gesicht des Mannes. Zu Hause sucht sie im Internet nach ihm. In Wikipedia steht, dass er immer Pantoffeln trage, weil er einen Zusammenhang zwischen Nierenerkrankungen und engen Schuhen vermute. Sie ist sich jetzt sicher, dass sie sich nicht getäuscht hat.

In Geschichten wie diesen, noch nicht einmal zwei Druckseiten lang, hat das neue Buch von Ferdinand von Schirach seine stärksten Szenen. Hier fällt die Irritation des Augenblicks zusammen mit einer komischen Pointe und einer nicht explizit formulierten moralischen Erfahrung.

Loslösen von der dunklen Familiengeschichte

Doch die kleine Episode ist nicht repräsentativ für die 42 kurzen Kapitel von "Kaffee und Zigaretten". Schirach schreibt so offen autobiografisch wie selten zuvor. Es wäre gelogen zu behaupten, die Erinnerungen an seine Jugendzeit und die Ausführungen über seine familiäre Herkunft übten nicht einen großen Reiz aus.

Was Schirach in diesem Buch unter anderem versucht, ist die Rekonstruktion der Entstehung eines moralisch gefestigten und philosophisch gebildeten Individuums aus einer unglücklichen oder auch unseligen Familiengeschichte.

Schirachs Großvater sah in der Deportation der Juden "aktiven Beitrag zur europäischen Kultur"

Immer wieder sucht Schirach Analogien zwischen dem aktuellen tagespolitischen Geschehen und historischen Ereignissen. Er zitiert seinen Großvater Baldur von Schirach, der die Deportation der Juden aus Wien im Jahr 1942 einen "aktiven Beitrag zur europäischen Kultur" genannt hatte und charakterisiert seine eigene Entwicklung als eine von Wut und Scham angetriebene Gegenbewegung.

Ein missglückter Selbstmord wird zum Glücksfall

Zu Beginn des Buchs begegnen wir allerdings einem jungen Menschen, der noch nicht einmal "Ich" sagen kann. Der Vater stirbt, als der Junge 15 Jahre alt ist. Einige Wochen nach der Beerdigung betrinkt der Junge sich auf dem elterlichen Anwesen mit Whiskey, holt ein Gewehr aus dem Waffenschrank und betritt den parkähnlichen Garten:

Er geht bis zur Ulme, die sein Vater zu seiner Geburt gepflanzt hat, setzt sich auf den Boden und lehnt sich mit dem Rücken an den glatten Stamm. Von hier sieht er im Morgenlicht das alte Haus mit der Freitreppe und den weißen Säulen, der Rasen im Rondell ist frisch gemäht, es riecht nach Gras und Regen. Sein Vater hatte gesagt, er habe damals ein afrikanisches Goldstück unter die Ulme gelegt, sie werde ihm Glück bringen. Er nimmt den schwarzen Lauf des Gewehrs in den Mund, er ist eigenartig kalt auf der Zunge. Dann drückt er ab.

Dass der Junge in seinem Zustand vergessen hatte, das Gewehr zu laden, betrachtet auch er im Nachhinein als glückliche Wendung.

Schirachs Herkunft ist gleichermaßen Fluch und Segen

Wir lernen den Autor als einen Menschen kennen, der zum einen unter der Last seiner Herkunft leidet, deren Privilegien aber auch gleichzeitig ausnutzt, um sie als Basis für eine richtige, im Sinne einer höheren Moral gerechtfertigte Existenz zu verwenden.

Den Schriftsteller Lars Gustafsson lädt Schirach nach einer Lesung aus dessen Roman "Der Tennisspieler" zu einem Match auf den Privatcourt der Familie ein. Anschließend sitzt man am Swimmingpool bei Eistee, und Gustafsson stellt die These auf, dass ein gelungener Aufschlag beim Tennis genauso kompliziert sei wie die Antwort auf die Frage nach einem gelingenden Leben.

Schirach zeichnet ein Selbstporträt in Variationen

Schirach zeigt sich als Heimatlosen und Reisenden, als grübelnden Melancholiker und Leser, als erfolgreichen Rechtsanwalt, der von der Frage angetrieben ist, wie das Böse in die Welt kommt und welche Ausdrucksformen es sich suchen kann. Die Reflexion der eigenen Befindlichkeit gerät Schirach dabei weniger überzeugend als die Beobachtung seiner Umwelt.

Der ungarische Literaturnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebende Imre Kertész, dem das Konzentrationslager die Jugend und sämtliche Illusionen genommen hat, hatte über Schirachs Berliner Kanzlei eine Wohnung.

An Kertész' Todestag erinnert Schirach sich an einen Abend, an dem er unangemeldet bei Kertész klingelte. Kertész öffnete ihm elegant gekleidet, im Hintergrund war der Tisch fein gedeckt. Nein, er erwarte niemanden, sagte Kertész, er mache das jeden Abend so. Schirach schreibt:

Sich selbst zu lieben, das ist zu viel verlangt. Aber die Form zu wahren, es ist unser letzter Halt.

Genaue Beobachtungen treffen auf Banalitäten

In Momenten wie diesen erweist sich Schirach als ein genauer Beobachter, der prägnant, treffend und wahrhaftig formulieren kann. Es steckt in der Logik der Form einer Sammlung von verstreuten Notaten, dass sich dazwischen aber auch eher seichte Stücke finden lassen.

Wenn Schirach sich konsumkritisch und kulturpessimistisch gibt, gerät er nicht selten in banale Regionen. Dass es bedauerlich ist, dass erwachsene Menschen lieber im noblen Papierladen Geld für Ausmalbücher ausgeben als für das neue Buch von David Foster Wallace in der Buchhandlung nebenan, ist sicher richtig. Für wohlfeil konsensfähige Feststellungen dieser Art gibt es allerdings den Börsenverein des Deutschen Buchhandels.

Der Versuch, die Beobachtungen mit Substanz anzureichern, gelingt nicht immer

Überhaupt hat Schirach die Neigung zum Naheliegenden, vor allem aber auch zur Überdeterminierung. Kleist und Hemingway, Platon und Aristoteles, Kant und Nietzsche werden ein wenig vorsätzlich aus dem bildungsbürgerlichen Repertoire hervorgezogen, um alltägliche Beobachtungen mit Substanz anzureichern und dadurch als exemplarisch darzustellen.

Und auch Schirachs allgemeine Überlegungen zum Weltenlauf klingen hin und wieder wie die Philosopheme eines pensionierten Oberstudienrats:

Der Mensch kann ja alles sein, er kann Figaros Hochzeit komponieren, die Sixtinische Kapelle erschaffen und das Penicillin erfinden. Oder er kann Kriege führen, vergewaltigen und morden. Es ist immer der gleiche Mensch, dieser strahlende, verzweifelte, geschundene Mensch.

Sachlich erzählte Anekdoten sind Stärke des Romans

Spaß macht "Kaffee und Zigaretten", wenn Schirach in seinem betont sachlichen, kühl gehaltenen Stil Anekdoten erzählt. Wenn er aber auf dem schmalen Grat zwischen dem Pathos der sprachlichen Kargheit und der Suche nach existentieller Erkenntnis wandelt, stürzt er auch gelegentlich ab.

Trotzdem: Der Einblick in das Schirach'sche Universum, in eine Mischung aus Herkunft, Sehnsucht nach Erlösung und Traurigkeit, hat auch immer wieder etwas Faszinierendes.

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Autor/in
Christoph Schröder