Graphic Novel

„Beatrice“ von Joris Mertens – Ein Comic wie ein gezeichneter Stummfilm

Stand
Autor/in
Max Bauer

Wie eng die Kunst des Comic-Zeichnens mit dem Filmemachen zusammenhängt, beweist der Comic-Zeichner Joris Mertens, der lange im europäischen Film-Business gearbeitet hat. Sein erster Comic „Beatrice“, der nun auf Deutsch erschienen ist, kommt ganz ohne Worte aus. Ein gezeichneter Stummfilm, der mit Bildern über das Bildermachen selbst nachdenkt.

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Mitten in den Roaring Twenties

„New York, Paris, Milano – Charlston, Jazz und Fox-Trot“, die wilden Zwanziger, die „Roaring Twenties“ – und mittendrin die junge Beatrice. Beatrice sieht aus wie der Stummfilm-Star Louise Brooks, schwarzer Bob-Haarschnitt, große dunkle Augen.

An ihrer Seite, ein schlanker Gentleman, nahe dran am „großen Gatsby“, und mit ihm tanzt Beatrice durchs Leben in den nie stillstehenden Metropolen der Moderne. Ein Film-Leben in Schwarz/Weiß – aber wie im Kino ist dieses Leben nicht das echte Leben von Beatrice. 

 Beatrice ist eigentlich eine ganz andere

Denn die Beatrice, von der Joris Mertens ganz ohne Worte erzählt, lebt nicht 1929, sondern vierzig Jahre später, 1972 als junge Frau in einer großen Stadt, wahrscheinlich in Brüssel.

Zeichnungen aus dem Comic „Beatrice“ von Joris Mertens
Beatrice entschwindet der Realität und taucht ein in die Welt der Zwanzigerjahre.

Sie ist Verkäuferin in einem Kaufhaus, schiebt sich morgens und abends durch den Großstadt-Dschungel, wohnt mit ihrer Katze in einer kleinen Dachwohnung und liest den Roman „Bonjour Tristesse“. 

Lippenstift, Mantel, Tasche: Die Farbe Rot dominiert

Doch dann ist da diese rote Tasche. Beatrice sieht sie jeden Morgen im dichten Bahnhofsgetümmel in einer Ecke am Boden stehen. Rot ist auch der Mantel von Beatrice, ein Farbkleks im grauen Pendleralltag.

Rot ist ihr Lippenstift, den sie immer trägt, und rot ist auch die altmodische Freitreppe in dem Kaufhaus, in dem Beatrice elegante, meist rote, Lederhandschuhe verkauft. Die rote Tasche zieht Beatrice magisch an.

Ein Fotoalbum zieht Beatrice in den Bann

Eines Tages nimmt sie die Tasche einfach mit. Ein altes Foto-Album kommt zum Vorschein. Darin: die wilden Zwanziger, die junge Frau, die Beatrice aufs Haar gleicht, eine Welt in Schwarzweiß, die jedoch um so vieles bunter und verlockender erscheint als das echte Leben von Beatrice.

Zeichnungen aus dem Comic „Beatrice“ von Joris Mertens
Der Comic kommt ganz ohne Text aus. Jeder Strich, jeder Lichteffekt ist lesbar.

Beatrice macht sich auf die Suche nach den Schauplätzen aus diesem anderen vergangenen Leben in Brüssel und sie wird fündig. Und auf einmal, in einem alten Café, in dem die Zeit stehen geblieben ist, werden die alten Fotos übermächtig und ziehen Beatrice hinein in die Welt ihrer Träume. 

 Geniale Bilderfolgen von Joris Mertens

Die Macht der Fotografie und des Kinos, die Macht der Illusionen, die das echte Leben aufsaugen – Comic-Zeichner Joris Mertens hinterfragt sie. Ganz ohne Worte und mit genialen Bilderfolgen, die wie ein gezeichneter Film wirken.

Ein gezeichneter Stummfilm, der mit Bildern über das Bildermachen selbst nachdenkt. Die Comic-Sprechblasen vermisst man an keiner Stelle. Jeder Strich, jeder Lichteffekt ist lesbar.

Das echte Leben löst sich in der Illusion auf

Man liest die Zeichen, die Joris Mertens zeichnet. Man muss sie entschlüsseln. „Diary of a Lost Girl“ – „Tagebuch einer Verlorenen“. Der Stummfilm-Klassiker mit Louise Brooks ist eines dieser Zeichen. Er taucht in dem alten Foto-Album auf. Und er weist uns Lesende auf das Schicksal von Beatrice hin.

Denn natürlich wird sie ihr echtes Leben verlieren, wird verschluckt von der illusionären Bildertraumwelt. Das echte Leben, es kann sich in Bildern auflösen. Instagram und Netflix lassen grüßen.

 Auf den Spuren von Marcel Proust

Aber die gezeichneten Bilder von Joris Mertens entlarven nicht nur den illusionären Taumel moderner Bilderwelten. Sie zeigen auch, was kluge Bilder können. Nämlich, etwas erzählen, was jenseits aller Worte liegt.

Denn der Comic „Beatrice“ ist zugleich eine sehr poetische Suche nach der verlorenen Zeit. Eine Suche, die zeigt, wie sehr die Sehnsucht nach alten Zeiten auch der Wunsch nach einem ganz anderen Leben ist.

Die Suche nach der verlorenen Zeit, sie ist vielleicht die Suche nach einer Zeit, die es nie gegeben hat. Joris Mertens´ Bilder über die Einsamkeit, die Sehnsucht, die Großstadt und das Kino folgen den Spuren von Marcel Proust. 

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Jubiläumsausgabe der Comic-Anthologie 20 Jahre „Spring“ – Das Comic-Magazin hat Zeichnerinnen in der Szene etabliert

Beim Magazin „Spring“ gehe es nicht nur um eine Vielzahl an graphischen Erzählungen und Illustrationen, sondern auch darum, sich zu vernetzen, auszutauschen und vor allem um Solidarität unter Zeichnerinnen, sagt die Illustratorin Larissa Bertonasco. Das Magazin erscheint jährlich zu einem Thema. „Togetherness“ lautet das Motto der diesjährigen 20. Jubiläumsausgabe. Den genau darum gehe es den Zeichnerinnen. 20 Illustratorinnen haben das Motto frei interpretiert. „Für mich war es das zusammen Abhängen“, sagt Larissa Bertonasco, eine der Künstlerinnen und Mitgründerin der Publikation. „Togetherness“ bedeute für sie „Zeit zusammen zu verbringen als Zeichen der Freundschaft“.
Eine Plattform für Zeichnerinnen
Larissa Bertonasco ist seit der ersten Ausgabe dabei, die vor 20 Jahren erschienen ist. Damals sei die Comicszene sehr stark männerdominiert gewesen, erklärt sie in SWR2. Für sie und die anderen Mitgründerinnen war es daher wichtig, eine Plattform „vor allem für Zeichnerinnen“ zu schaffen, auf der sie sich vernetzen und gesehen werden können. Die Gruppe besteht von Anfang an aus Frauen und sei ein Netzwerk für Zeichnerinnen aus dem deutschsprachigen Raum.
„Spring“ als Vorbildfunktion
Im Laufe der Jahre habe sich einiges für Zeichnerinnen zum Positiven verändert, sagt Bertonasco. So seien Illustratorinnen „viel sichtbar geworden“. Nichtsdestotrotz sei es immer noch wichtig sich als Künstlerinnen, weiterhin „gegenseitig zu unterstützen“. Die Künstlerinnen verdienen persönlich kein Geld durch die Publikation von „Spring“, „wir wollen eher eine Vorbildfunktion haben“, sagt Bertonasco. Ihr Ziel: Der Welt zu zeigen, wie sie als Kollektiv arbeiten.

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Comic Herrlicher Klamauk: „Die Käsis“ ist der erste Comic von Bestsellerautor Heinz Strunk

Bestsellerautor Heinz Strunk glänzt durch Sprachwitz in seiner Nonsens-Geschichte, die von dem Street-Art-Künstler vent137 durch bunte Wimmelbilder kongenial umgesetzt wurde.

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Ben Gijsemans porträtiert in seinem Comic „Aaron" einen jungen Mann mit pädophilen Neigungen. Ein heikles Unterfangen. Aber der flämische Zeichner nähert sich seiner Hauptfigur in einer Mischung aus Distanz und Empathie.

Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Edition Moderne, 216 Seiten, 35 Euro
ISBN 978-3-03731-245-2

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