SWR2 lesenswert Kritik

Ben Gijsemans – Aaron

Stand
Autor/in
Silke Merten

Ben Gijsemans porträtiert in seinem Comic „Aaron" einen jungen Mann mit pädophilen Neigungen. Ein heikles Unterfangen. Aber der flämische Zeichner nähert sich seiner Hauptfigur in einer Mischung aus Distanz und Empathie.

Der 1989 geborene Flame Ben Gijsemans hat Audiovisuelle Kunst in Gent und Brüssel studiert und ist freiberuflicher Comic-Autor und Illustrator. Er veröffentlichte bisher den Graphic Novel „Hubert", der auch Teil seiner Abschlussarbeit war, und hat jetzt für seinen neuen Comic ein besonders sensibles Thema angefasst: „Aaron" – Silke Merten.

Mit Aaron stimmt etwas nicht. Das spüren wir Lesenden schon auf den ersten Seiten. Ein junger Mann wie viele, um die 20, dunkelhaarig. Ein bisschen linkisch. Auf den ersten Blick wirkt alles normal. Er liest Superhelden-Comics, daddelt auf seinem Computer und lernt für eine Prüfung. Aber er starrt zu oft ins Leere, wirkt angespannt. Immer wieder blickt er suchend aus dem Fenster. Wo ein kleiner Junge mit einem Fußball vor sich hin kickt. Und dann zoomt Aaron auf Facebook, wo sein Bruder Fotos seiner neuen Freundin postet, auffallend nah an deren kleinen Sohn heran.

Der Comic-Zeichner Ben Gijsemans schafft von der ersten Seite seiner Graphic Novel „Aaron“ eine Atmosphäre von Traurigkeit und Unbehagen, obwohl kaum etwas passiert. Und auch, weil kaum etwas passiert. Konsequent bleibt er bei seiner Hauptfigur und teilt deren Tag in Episoden ein, die sich kaum ändern: aufstehen, lernen, Comics aussuchen, mit den Eltern essen. Alles nüchtern aus der Halbdistanz beobachtet. Die Episoden wiederum zerlegt er in gleichgroße Bilder, immer 12 pro Seite. Nur winzige Veränderungen verraten: Aaron hat sich bewegt oder dreht sich zum Fenster. Was in anderen Comics weggelassen wird, wird hier detailgenau festgehalten. Ein Effekt, der die gezeigte Zeit ins schier Unendliche dehnt. Und Spannung erzeugt. Denn natürlich haben wir nach ein paar Seiten verstanden, dass Aaron sich zu Kindern hingezogen fühlt. Und warten mit leisem Entsetzen auf seinen Versuch, eines von ihnen zu missbrauchen.

Doch genau das zeigt sein Schöpfer nicht. Stattdessen zeichnet der Flame Ben Gijsemans das Porträt eines Mannes, der genau weiß, wie geächtet sein Begehren ist. Und wie bedrohlich für ein Kind. In zart kolorierten Bildern, mit einem Konturstrich, der an Jugendstilgemälde erinnert, folgt er Aaron immer wieder durch heikle Situationen. Etwa ein Wochenende in den Ardennen mit seinem Bruder und dessen Freundin samt Sohn. Hier wagt Aaron ein einziges Mal, den kleinen Jungen zu umarmen. Zum Glück schläft der und Aaron kann sich schnell vom Jungen lösen. Niemand hat etwas gemerkt. Nur wir werden zu Mitwissenden. Und zu Zeugen von Aarons Einsamkeit. Denn so unmöglich eine erfüllte Beziehung für ihn ist – die Sehnsucht danach lässt sich nicht einfach abschalten. Oder gar mit einer Frau verdrängen. Die Bilder des missglückten One Night Stands mit einer Kneipenbekanntschaft werden zum tragikomischen Höhepunkt der Graphic Novel.

Eine Möglichkeit, sich für kurze Zeit von seinem Unglück abzulenken, bieten Aaron seine Superheldencomics. Ben Gijsemans zeichnet sie im Stil alter Groschenhefte nach und platziert sie zwischen den Episoden der Graphic Novel. Samt der billigen Ästhetik, ihrer hanebüchenen Logik und überspannter Helden wie Gleam Spirit oder Snipermind. Aber unser und Aarons Vergnügen bleibt getrübt. Im Universum dieser Superhelden ist kein Platz für Entwicklung. Sie bleiben in Klischees stecken. Da wirkt es nur logisch, dass Gijsemans seinen Aaron immer wieder als Superheldenfigur zwischen den Episoden darstellt. Muskeln und Superkräfte mögen ein Schutz für Aaron sein. Aber sie symbolisieren eben auch eine Männlichkeit, die weder Schwächen vorsieht noch abweichende sexuelle Neigungen.

Das alles mag nach quälender Lektüre klingen. Doch gerade durch die verschiedenen visuellen Ebenen gelingt es Ben Gijsemans, das Thema Pädophilie überzeugend ins Medium Comic umzusetzen. Und eine Geschichte zu erzählen, die berührt statt abstößt. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass ein Annäherungsversuch an ein Kind Missbrauch ist – eben weil er seine Hauptfigur zögern und zurückschrecken lässt, wenn sie die Gelegenheit hat, sich anzunähern. Und in seinen Bildern bleibt er auf Distanz zu Aaron, selbst wenn der weint. Andererseits macht Gijsemans deutlich: ein Leben mit pädophiler Neigung ist eine Qual. Die Versuchung bleibt und der Druck der sozialen Ächtung steht für die Betroffenen immer im Raum. Obwohl längst nicht alle zu Tätern werden. Dass sie Respekt verdienen und vor allem Hilfe, das macht Ben Gijsemans mit seinem großartigen Comic klar.

Stand
Autor/in
Silke Merten