Buchkritik

Andreas Kilcher – Kafkas Werkstatt

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Kafka, das einsame Genie? Von wegen. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher beschreibt den Prager Autor in seiner Studie „Kafkas Werkstatt“ als wandelndes Textverarbeitungssystem. Und interpretiert Kafkas kleine Geschichte über Odradek als Hallraum der großen zeitgenössischen Diskurse.

Wer noch glaubt, dass Autoren ihre Geschichten einfach so erfinden, bekommt von Andreas Kilcher eine klare Ansage: „Bücher entstehen aus Büchern. Literatur aus Literatur“. In diesem Sinn begreift der Literaturwissenschaftler Kafka als wandelndes Textverarbeitungssystem, dessen Schreiben genährt und katalysiert wird durch Lektüren vielfältiger Art: Mit seiner Studie „Kafkas Werkstatt“ will Kilcher… 

 … einem Kafka-Bild widersprechen, das sein Schreiben als schwierige, einsame und geniale Geburt eines Einzelgängers jenseits aller Kontexte versteht (…). Dagegen richtet das Verständnis von Kafkas Texten als Hypertexten den Blick auf die direkte sowie auch indirekte Verarbeitung von Gelesenem. Kafkas Texte erweisen sich dann förmlich als „Krypto-Konferenzen“, als mehr oder weniger verdeckte „Lektüreprotokolle“. 

Abgesehen davon, dass die Magie von Kafkas Sätzen nun wirklich nichts mit einem „Protokollstil“ zu tun hat, muss man fragen, wer eigentlich noch ernsthaft dem Bild vom einsamen Genies Kafka anhängt? Ist die ausufernde Kafka-Forschung nicht seit langem damit beschäftigt, vielfältige Kontexte an dessen Werke heranzutragen? 

Wer oder was ist Odradek? 

Wie auch immer, an Kafkas anderthalbseitiger Kurzgeschichte „Die Sorge des Hausvaters“ demonstriert Kilcher seine Methode. Sie handelt von einem kleinen, im Treppenhaus herumhuschenden Wesen, das aus Spulen, Fäden und Hölzchen zusammengesetzt ist und sich selbst mit raschelnder Stimme „Odradek“ nennt. Es richtet keinen Schaden an, ärgert den titelgebenden „Hausvater“ aber doch, weil so etwas Überflüssiges, Unzugehöriges, Zweckloses einfach hartnäckig fortexistiert.  

Kilcher zeigt nun, wie in diesem kleinen Text vier Großdiskurse der Moderne vibrieren, mit denen sich Kafka als intellektuell wacher Zeitgenosse und Leser beschäftigte: die Psychoanalyse, der Marxismus, der Zionismus und der Okkultismus.  

Kafka und der Zionismus 

Die interessantesten Aufschlüsse bietet das profunde Kapitel über den Zionismus, mit dem sich Kafka stark beschäftigte. Er lernte Hebräisch und plante die Auswanderung nach Palästina. Die verfitzte Odradek-Gestalt lässt sich in diesem Zusammenhang lesen als Verbildlichung der jüdischen Selbstkritik am bodenlosen Diaspora-Judentum:   

All die negativen Bestimmungen des Diaspora, die im zionistischen Diskurs auf zahlreichen publizistischen Kanälen zirkulierten, erscheinen in der Figur Odradeks kongenial verdichtet und verflochten: Odradek ist nicht kohärent, sondern ‚verfitzt‘, nicht verwurzelt, sondern ‚von unbestimmtem Wohnsitz‘, nicht tätig und produktiv, sondern untätig und zwecklos. Odradek ist mithin die syndromartige Ausgestaltung all dessen, was dem Zionismus am eigenen Judentum so unheimlich geworden war.

Enzyklopädische Patchwork-Partituren 

Aus anderthalb Kafka-Seiten entfaltet Kilcher gleichsam eine Enzyklopädie. Dabei geht es ihm weniger darum, im Stil der alten, detektivischen Quellenphilologie Einflüsse, Zitate und Paraphrasen exakt nachzuweisen. Sondern, viel unschärfer, um „Resonanzen“ und „Kraftfelder“, um „textuelle Energetik“, mögliche „Korrelationen“ und Motive in doppelter oder dreifacher Brechung. Um nichts Ein-deutiges, Ein-sinniges also. Vielmehr rühmt Kilcher Kafkas Werke als „heterogene Texturen“ und „Patchwork-Partituren“.

In sein Buch sind Jahrzehnte der Beschäftigung mit Kafka und seinen Kontexten eingeflossen. Kilchers Einblicke in Kafkas Werkstatt, wie er sie versteht, sind superklug und faszinierend. Aber fast tut einem der kleine Odradek leid. Wie der griechische Titan Atlas muss er hier eine ganze Welt der Diskurse und Bedeutungen stemmen.  

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