Mit „Kafkas Schere“ legt der Autor Thomas Lehr eine sehr eigenständige Hommage an Franz Kafka vor. In zehn Prosatexten, die Lehr „Etüden“ nennt, umspielt er Motive und Phantasien Kafkas und schreibt sie originell und eigenwillig bis in die Gegenwart weiter. Ein konsequent literarisches Statement zu Kafkas 100. Todestag.
Thomas Lehr ist ein literarischer Verwandlungskünstler. Er kann packende realistische Romane genauso schreiben wie formal raffinierte, assoziationsgeladene Prosagebilde. Sein schmales Bändchen mit dem Titel „Kafkas Schere“ zeigt nun, dass er auch die kleine Form beherrscht.
Er hat „Zehn Etüden“ verfasst. Kafkas Texte sind per se ein ästhetischer Maßstab, und auch Thomas Lehr schärft an ihnen erkennbar seinen eigenen Stil. Die kurzen, brillanten, vielstimmigen Kompositionen in seinem Band haben alle etwas mit Themen und Motiven des großen Pragers zu tun.
Zehn brillante Texte, die Motive Kafkas aufgreifen
Man erkennt es sofort an der Atmosphäre, an der dunklen Grundstimmung, in der sich der Einzelne fremd fühlt und in eine undurchschaubare Umgebung hineingestellt sieht – und das alles in prägnanten, apodiktisch wirkenden Sätzen. Einmal etwa stürzen existenziell ausgesetzte Kletterkünstler hinab in ein tiefes, schwarzes Wasser, bis auf den Grund:
Lehrs Etüden sind keine Geschichten, die sich nacherzählen ließen. Diese literarisch-philosophischen Grenzgänge entziehen sich den üblichen Begrifflichkeiten und Handlungsschemata. Und es sind nicht nur Künstlerfiguren, die der Autor aus dem Kafka-Kosmos in eine ganz eigene Gegenwart überführt.
Ein Lehrscher Etüden-Titel wie „Die Babylonischen Maulwürfe“ könnte auch über einem der klar konturierten, symbolisch aufgeladenen Prosatexte Kafkas stehen, und „Das Kinesische Zimmer“ scheint Vorstellungen Kafkas direkt weiterzuschreiben, der seine Phantasie gelegentlich bis in asiatische Wüsten und Mauern austreiben ließ.
Leere Weiten und hetzende Hunde
Die Verlassenheit in leeren Weiten, ein zentrales Kafka-Bild, formuliert Thomas Lehr einmal in einem dichten Tableau mit hetzenden Hunden aus, die letztlich aber ebenso verloren sind wie die Wesen, die von ihnen verfolgt werden und als ein namenloses „Wir“ sprechen.
Thomas Lehr findet im juristisch geschliffenen, kalten und scharf akzentuierenden Kafka-Ton auch neue Versionen klassischer Mythen. Sisyphos und Orpheus etwa werden zu Phantasmagorien einer ausweglosen Spätmoderne.
Jedes Mal entstehen ironische, abgrundtief lachende Kafka-Paraphrasen aus heutiger Perspektive. Lehr greift lustvoll in das Arsenal der Kafka-Obsessionen, spinnt sie bis in zeitgenössische Science-Fiction-Welten weiter. In der Etüde „Das Notizbuch“ geht Thomas Lehr auch der Bedeutung des Schreibens bei Kafka auf den Grund: Das Papier wird in all seinen Erscheinungsformen und Herstellungsprozessen benannt und bekommt eine ungeahnte Eigendynamik, saugt das Leben des Einzelnen förmlich auf, von der Geburt bis zum Tod:
Absurde Komik und existenzielle Leere
Direkt benannt wird Kafka nur einmal, in der titelgebenden Etüde „Kafkas Schere“. Die geheimnisvollen Bilder Kafkas, das ständige Changieren zwischen absurder Komik und existenzieller Leere sind hier spielerisch eingefangen, aber dabei glitzert und funkelt alles in großen sprachlichen Gesten. Der Band „Kafkas Schere“ ist leichtfüßig und tiefgründig zugleich. Er holt die großen Fragen des Prager Schriftstellers ein und überführt sie in ein irrlichterndes Heute.
Mehr Literatur über Franz Kafka
Buchkritik Sebastian Guggolz (Hg) – Kafka gelesen: Eine Anthologie
Die Anthologie „Kafka gelesen“ ist eine Einladung, fremden Lektüren zu folgen und mit 26 Autorinnen und Autoren in die Textwelt Kafkas aufzubrechen.
Eine Rezension von Holger Heimann